: Das W in Wachstum steht für „Wie?“
Können wir die Welt nur retten, wenn wir alle den Gürtel enger schnallen? Nein, Verzicht ist nicht die Lösung für alles. Es geht darum, die Transformation sinnvoll zu gestalten
Von Simon Poelchau
Ein Gespenst geht um in Deutschland. Es ist das Gespenst der ökologischen Transformation. An Neujahr produzierten Wind- und Solaranlagen hierzulande mehr Strom, als verbraucht wurde. Eigentlich ein Grund zum Feiern. Doch so richtig ist keinem danach. Die Industrieproduktion bricht ein, Konzerne wollen Arbeitsplätze abbauen, das Bruttoinlandsprodukt schrumpft das zweite Jahr in Folge.
Die Transformation wird zum Albtraum, möchte man meinen. Sie kostet nur. Vor allem Wirtschaftsleistung, so der Tenor quer durch die politischen Lager. Die Deindustrialisierung der Wirtschaft müsse ein Ende haben, die „grüne Wirtschaftspolitik“ sei gescheitert, poltert Union-Kanzlerkandidat Friedrich Merz im Wahlkampfmodus.
Dass der ökologische Umbau der Wirtschaft hin zu Klimaneutralität nicht zu wirtschaftlichem business as usual passt, davon ist die Degrowth-Bewegung indes schon länger überzeugt. Sie glaubt nicht daran, dass grüne Technologien Wachstum erzeugen und gleichzeitig die Umweltbelastungen absolut senken können. „Allein unter der Voraussetzung eines nicht wachsenden BIP besteht überhaupt nur eine Chance, durch grüne Technologie die Ökosphäre zu entlasten“, schrieb der bekannte Postwachstumsökonom Niko Paech bereits 2012.
Müssen wir also alle den Gürtel enger schnallen, wenn wir die Welt retten wollen? Muss die Wirtschaft im Rahmen der ökologischen Transformation schrumpfen statt wachsen?
Nein, Verzicht ist auch keine Lösung. Es geht nicht um mehr oder weniger, sondern um das richtige Wachstum. Und vor allem darum, wie es entsteht. Natürlich stellt die Energiewende die kapitalistische Produktionsweise vor enorme Herausforderungen. Ohne die Erfindung der Dampfmaschine wäre die Industrialisierung nicht denkbar gewesen, seit über 200 Jahren fußt Wirtschaftswachstum vor allem auf der Verfügbarkeit fossiler Energieträger. Doch ob Wirtschaftsleistung klimaschädigend oder -neutral erzeugt wird, das ist in der kapitalistischen Produktionsweise letztlich nebensächlich.Wachstumskritiker*innen verkennen das.
Das unterkomplexe BIP
Das Bruttoinlandsprodukt, kurz BIP, ist eine wichtige, aber sehr abstrakte Zahl. Mit ihr lassen sich Volkswirtschaften miteinander vergleichen: Wessen Ökonomie ist größer? China oder USA? Schweiz oder Indien? Die Erklärungskraft des BIP hat aber ihre Grenzen. Es sagt nicht aus, wie gerecht es verteilt ist oder ob es nachhaltig erzeugt wurde. Letztlich zeigt es nur, wie wirtschaftlich produktiv eine Gesellschaft in einem bestimmten Zeitraum war. Ist das BIP gewachsen, hat sie mehr produziert als in der Vorperiode. Wenn es sinkt, war es weniger.
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Deswegen lässt sich auch nicht automatisch beantworten, ob die Transformation zu mehr oder weniger Wachstum führt. Denn letztlich ist das BIP eine neutrale Größe. Selbst Naturkatastrophen können zu seinem Wachstum beitragen. Wenn nämlich zum Beispiel Gebäude, die im Rahmen einer Flut zerstört worden, wieder aufgebaut werden, dann sind das wirtschaftliche Aktivitäten, die sich in einer höheren Wirtschaftsleistung widerspiegeln.
Insofern ist es auch falsch, einfach nur von Kosten zu sprechen, die die Transformation verursachen würde. Investitionen in die Energiewende steigern direkt das BIP. Dem Staat kommt dabei eine ganz besondere Funktion zu. Er kann nicht nur mit Subventionen Unternehmen und private Haushalte bei der Transformation unterstützen. Der Staat ist auch dafür zuständig, die notwendige Infrastruktur zu schaffen.
Zusätzliche Investitionen von 600 Milliarden Euro seien in den nächsten zehn Jahren nötig, um den Investitionsstau aufzulösen und das Land zukunftsfähig zu machen – das berechneten das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) und das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung vergangenes Jahr in einer gemeinsamen Studie. Entsprechend müssten jährlich 60 Milliarden Euro in den Wirtschaftskreislauf gepumpt würden – etwa durch Klimaanpassungsmaßnahmen oder öffentliche Investitionen in den Klimaschutz und öffentlichen Nahverkehr. All das würde zu einem höheren BIP, also Wachstum führen.
Und nicht nur das: Wenn in die Transformation investiert wird, schafft das Arbeitsplätze, indem zum Beispiel neue Stromnetze gebaut werden oder der Ausbau der Wind- und Solarenergiebranche vorangetrieben wird. Menschen verdienen Geld, das sie ausgeben, so die Konjunktur ankurbeln und mit ihrem Konsum neue Jobs schaffen.
Der starke Effekt
Ökonom*innen sprechen deshalb auch von einem Multiplikatoreffekt, den staatliche Ausgaben haben. Wie groß dieser Effekt sein kann, zeigt aktuell ein Vergleich zwischen Deutschland und den USA. Während der Staat in Deutschland aufgrund der Schuldenbremse spart, hat der damalige US-Präsident Joe Biden im Jahr 2022 mit dem Inflation Reduction Act ein massives Investitionsprogramm zur Förderung von grüner Technologie aufgelegt. Und während die deutsche Wirtschaft vergangenes Jahr um 0,2 Prozent geschrumpft ist, wuchs die US-amerikanische Wirtschaft um 2,8 Prozent.
Bloß kam der Aufschwung nur bedingt bei den Menschen an. „Für viele Amerikaner sind die Lebenshaltungskosten heute viel höher als vor vier Jahren“, schrieb der Guardian in einer Analyse über die Effekte von Bidens Wirtschaftspolitik. Gleichzeitig besitzen mittlerweile die drei reichsten Menschen der USA mehr als die arme Hälfte der Gesellschaft.
„Die Klimakatastrophe ist auch eine Verteilungsfrage“, schreiben Linus Westheuser und Johanna Siebert im neuen Wirtschaftsmagazin Surplus. Dies ist insbesondere in Deutschland der Fall, wo der Staat nicht richtig investiert und weite Teile der Industrie jetzt merken, dass sie die Transformation verschlafen haben. Denn wenn weniger produziert wird, gibt es weniger zu verteilen. Die Konflikte verschärfen sich.
Dabei ist es frappierend, wie ungeniert rechte Politiker:innen, Wirtschaftsverbände und Konzernlenker:innen die Kosten der Transformation auf die Beschäftigten abwälzen wollen. Die Stahlsparte von Thyssenkrupp, die Milliardensubventionen für den Aufbau einer grünen Stahlproduktion erhält, kündigte letzten Herbst Massenentlassungen an. Bei Volkswagen wurde bis kurz vor Weihnachten um ein hartes Sparprogramm gerungen. Der Vorstand wollte nicht nur Massenentlassungen, sondern auch Lohnkürzungen und Werksschließungen. Friedrich Merz fordert von den Beschäftigten „mehr Fleiß“, damit es wieder mit dem Wachstum klappt.
Es drängt sich der Verdacht auf, dass Personen wie Merz und die Geschäftsführer von Thyssenkrupp und VW heimlich „Das Kapital“ von Karl Marx gelesen haben und nun daraus in ihrem Interesse abschreiben. Denn für den Erfinder des wissenschaftlichen Sozialismus gab es nur eine Quelle jeglichen Wertes: die Verausgabung menschlicher Arbeitskraft. Deswegen wäre für Marx das BIP lediglich die Summe dessen, was eine Volkswirtschaft in einem Jahr gemeinsam erarbeitet hat.
Für Marx bestand der Haupthebel für Unternehmer*innen zur Erhöhung ihrer Renditen deshalb darin, ihre Angestellten länger, effizienter und für weniger Geld arbeiten zu lassen und sich so einen größeren Anteil ihres Arbeitsproduktes anzueignen. Genau dies fordern Merz und Co jetzt wieder ein.
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Die gute Arbeit
Folglich sollten auch Progressive wieder das Thema gute Arbeit ins Zentrum der Transformationsdebatte stellen und positiv wenden. Wie kann Arbeit fair und ressourcenschonend aufgeteilt werden? Sollten manche Arbeiten einen höheren Stellenwert haben, andere einen niedrigeren? Ist es sinnvoll, dass ein Konzernvorstand das 40-fache Gehalt eines Angestellten hat? Oder sollten Biobauern und Handwerker mehr verdienen? Schließlich ist es ressourcensparender, wenn Lebensmittel regional erzeugt und Alltagsgüter wie Schuhe handwerklich statt als Massenware am anderen Ende der Welt produziert werden. Dann tragen diese Berufe durch ihre Aufwertung auch stärker zum Wachstum bei.
Vielleicht kommt die Gesellschaft auch zu dem Schluss, dass es sinnvoll ist, im Sinne der Transformation weniger statt mehr zu arbeiten. Dann wäre es auch nicht so schlimm, wenn es am Ende etwas weniger Wachstum gäbe. Denn im Kapitalismus gilt nur jene Arbeit als wertbildend, also zum BIP beitragend, deren Produkte auch verkauft werden. Andere nützliche Arbeit wie ehrenamtliches Engagement oder Pflege- und Sorgearbeit in der Familie spiegeln sich in der Wirtschaftsleistung nicht wider.
Insofern sollte die Transformation wieder als Chance begriffen werden, um darüber zu diskutieren, wie wir eigentlich leben wollen. Ob es dann mehr oder weniger Wachstum gibt, ist dann erst mal nebensächlich.
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