Waffenstillstand im Gazakrieg: Ruhe auf Zeit
Die Waffen schweigen, doch noch immer fehlt es den Menschen im Gazastreifen am Nötigsten. Wohin soll man gehen, wenn alles zerstört ist?
Kundschaft fand er trotzdem. Im Verlauf der letzten 15 Monate Krieg wurde aus der Stadt Deir el-Balah mit ihren etwa 80.000 Einwohnern eine Art Metropole. Bis zu 700.000 Menschen sollen im Verlauf des Krieges hierher geflüchtet sein. Und viele von ihnen sind immer noch hier: Sie leben in Zelten auf den Straßen und Freiflächen, in Wohnblöcken ohne Strom und Wasser – „wie in der Steinzeit“, sagt einer der Bewohner. Ihre Handys und Laptops laden die Menschen oft an sogenannten Charging Points, der Strom kommt durch Solarzellen oder Generatoren. Das Leben wird bestimmt vom Mangel.
Al-Saftay hat Glück im Unglück – er lebte schon vor dem Krieg in Deir el-Balah. Verhältnismäßig ist die Stadt weniger stark vom Krieg gezeichnet als andere. Auch das Haus, in dem er mit seiner Ehefrau und den beiden Kindern lebt, blieb verschont. Doch auch er leidet unter dem Krieg: Weil es kaum Strom – und damit auch keine funktionierenden Kühlschränke – gibt, kauft er von Tag zu Tag Lebensmittel – für seine Familie und für seinen kleinen Laden. Vorauszuplanen ist schwierig, sogar für 24 Stunden. Auch er fragt sich: Wie geht es nun weiter? Und die Menschen in den Zelten auf den Straßen fragen sich das wohl noch mehr.
Seit dem 19. Januar ist das Abkommen zwischen Israel und der Hamas in Kraft, das dafür sorgen soll, dass die Geiseln nach und nach freikommen und die Waffen schweigen. Die Geräusche der Raketen und Explosionen sind in Deir el-Balah verstummt. Doch die Aufklärungsdrohnen, die mit ihrem lauten Surren täglich stundenlang über dem Gazastreifen kreisen, erinnern daran: Bisher ist die Ruhe nur temporär.
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Viele Menschen können sich den Markt nicht leisten
Im Rahmen des Abkommens sollen außerdem mehr Hilfsgüter in den Gazastreifen gelangen, mit mehreren hundert Lastwägen täglich. Nach Angaben der Vereinten Nationen übertreffe man seine Ziel sogar: Allein am Tag nach dem Beginn des Waffenstillstandes seien über 900 Lastwägen angekommen.
Doch al-Saftay in seinem kleinen Geschäft merkt davon bisher wenig. Die Güter kämen rein in den Gazastreifen, seien im lokalen Großhandel verfügbar – aber die Einkaufspreise seien immer noch höher als vor dem Beginn des Krieges, betont er. Teile der Hilfsgüter, die etwa von den Vereinigten Arabischen Emiraten oder der Europäischen Union gestiftet werden, werden in den Märkten verkauft – auch über ihn. Sie sollten gratis verteilt werden, sind auch so mit Aufdrucken markiert – „Not for Sale“, nicht zu verkaufen. Doch das passiert oft nicht. Die Großhändler säßen alle hier in Deir el-Balah, sagt er, und verkauften die angekommenen Güter an Händler wie al-Saftay weiter. Jeden Tag änderten sich deshalb auch seine Einkaufspreise. Viele Menschen, betont er, könnten sich weiterhin viele Güter nicht leisten.
Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Mehrheit der Menschen in Gaza ihre Häuser, ihre Arbeit, ihr ganzes Leben immer wieder hinter sich lassen musste – auf der Flucht vor den Luftangriffen, den Evakuierungsanordnungen des israelischen Militärs folgend. Einer von den zeitweise über 1,5 Millionen Binnengeflüchteten ist Moman al-Saftay. Dass die beiden Männer den gleichen Nachnamen tragen ist Zufall. Pharmazie habe er studiert, erzählt er, vor dem 7. Oktober 2023. „Mein Leben war normal. Und dann kam der Krieg und hat alles zerstört“ – sein Zuhause, die Apotheke, in der er arbeitete, die Universität, an der er lernte.
Er vermeidet es, auf dem Markt einzukaufen. Zu teuer sind die verfügbaren Lebensmittel, nachdem er sein Einkommen verloren hat. Stattdessen stand er bisher mit vielen anderen Menschen in den Schlangen vor den Verteilungszentren der Hilfsorganisationen. Doch seit Beginn der Waffenruhe am Sonntag habe es in Deir el-Balah keine Verteilung von Hilfsgütern mehr gegeben. Das ist nun bald eine Woche her. „Morgen vielleicht“, sagen die Menschen. Vielleicht müssten sie die Waren erst sortieren, sagt einer.
Keine Zukunft im Gazastreifen
Daran, dass kriminelle Gangs die Laswägen ausrauben, liegt es wohl nicht. Während des Krieges wurde das zu einem gängigen Bild: Etwa die New York Times berichtete von vermummten, schwer bewaffneten Männern, die sich auf die Planen der eintreffenden Lastwägen schwingen und im herrschenden Machtvakuum – die Hamas ist im Untergrund, eine alternative Kontrollinstanz fehlt – die Ladung stehlen. Auch in den Sozialen Medien häuften sich Bilder und Videos davon. Die erbeuteten Güter, so berichten lokale Quellen, wurden oft teuer weiterverkauft oder von den Gruppen selbst behalten.
Also wartet Moman al-Saftay darauf, dass endlich die Verteilung der Güter beginnt. Seine Zukunft, betont er, sehe er nicht im Gazastreifen: „Ich bin 21 Jahre alt und stehe vor dem nichts“. So Gott es wolle, sagt er, werde er fortgehen. Dafür müsste der Grenzübergang Rafah zum Nachbarland Ägypten geöffnet werden. Der befindet sich derzeit noch unter israelischer Kontrolle – eine Nachfolge wird diskutiert. Die Times of Israel berichtete jüngst, Israel und Ägypten hätten sich darauf geeinigt, dass die Palästinensische Autonomiebehörde die Kontrolle des Grenzübergangs übernehme. Kurz darauf dementierten Israel wie die Autonomiebehörde die Gerüchte.
Bis Rafah – unter welcher Kontrolle es dann auch immer stünde – öffnet, wird noch Zeit vergehen: Nach dem Text des Abkommens soll der Übergang für Zivilisten und Verwundete geöffnet werden, nachdem alle weiblichen Geiseln freigekommen sind. Ein Zeitrahmen wird nicht genannt. Drei junge israelische Frauen wurden bereits aus der Geiselgefangenschaft entlassen, am Samstag folgen vier weitere. Auf der Liste der 33 Geiseln, die im Rahmen des Deals freikommen sollen, stehen dann noch zwei weitere Frauen.
Wie Moman steht auch Mohammed Al-Loyah vor dem nichts, so erzählt er es. Al-Loyah ist ein junger Mann, doch die Sorgenfalte zwischen den Augenbrauen sitzt tief. Er stammt aus dem Nuseirat Camp in Zentralgaza. Seit 1948 leben dort Palästinenser, die aus dem für heutigen Israel vertrieben wurden. Längst ist das Camp eine Stadt geworden, über 88.000 Menschen waren vor dem Krieg dort registriert. Die Straßen waren schmal und zwischen den Gebäuden kaum Platz. In Nuseirat befreite das israelische Militär im Frühling 2024 vier Geiseln in einer waghalsigen Operation mit vielen palästinensischen Toten. Al-Loyah hatte das Camp im Dezember 2023, Monate zuvor, verlassen.
„Warum passiert uns das?“
Auf vier Stockwerken wohnten sie zusammen, erzählt er: Sein Vater, seine Mutter, sein Bruder mit dessen Frau und Kindern, er selbst mit Ehefrau und den drei kleinen Kindern. Geld verdiente er auf dem Bau oder als Hilfsarbeiter – kein großes Auskommen, doch es reichte. „Sie haben alles zerstört“, sagt er, die „Jish al-Ahtilal“, die Armee der Besatzung. So nennen viele in Gaza und dem Westjordanland die israelische Armee.
Nahe al-Loyahs Zuhause lag Ackerland. Heute, erzählt er, sei es Teil des Netzarim-Korridors. Die ganze Landschaft hätten die Israelis mit Bulldozern plattgemacht. Und: „Nachdem wir unser Haus verlassen hatten, nutzten es die Besatzungstruppen“. Bekannte, die vor Ort geblieben seien, erzählten ihm: Der zweite Stock – in dem sein Bruder mit seiner Familie lebte – sei vollkommen abgebrannt. Schließlich sei das Haus bombardiert worden. „Nichtmal ein Zelt könnte man da noch aufstellen“, glaubt al-Loyah. Also bleibt er erstmal mit seiner Familie in ihrem Zelt in Deir-el-Balah – „und obdachlos“. „Wenn die Waffenruhe nicht hält, wäre das eine Katastrophe“, betont er. „Insbesondere, weil unser Zuhause an die Netzarim-Achse grenzt“.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
In den Sozialen Netzwerken zeigen Menschen aus dem Gazastreifen die Rückkehr in ihre Wohnungen: In manchen ist nur wenig zerstört, die Bewohner fegen Scherben und Schutt zusammen, einer verlegt sogar neue Fliesen. Auch der Verkäufer Saadi al-Saftay erzählt: Weil sein Laden an einer größeren Straße in Deir el-Balah liege, sei er immer wieder von Splittern naher Explosionen beschädigt worden. Von größeren, strukturellen Schäden blieb er aber verschont: „Ich habe es dann einfach repariert.“
Etwas reparieren, wieder aufbauen: Daran denkt Moman Al-Saftay, der einmal Pharmazie studierte und nun auf die Verteilung von Lebensmitteln wartet, nicht mehr. Er will nur fort. Und fragt: „Warum passiert uns das?“. Und: Wann endet das?
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