: Was von der Pandemie übrig blieb
Mehr Homeoffice, weniger Bargeld und ein neues Niesverhalten: Im Kleinen hat die Coronazeit so einige Veränderungen angestoßen
Von Lukas Heinser
Videokonferenzen
„Dieses Meeting hätte eine E-Mail sein können“ war ein beliebter Seufzer in der Arbeitswelt vor 2020. Während der Coronapandemie kam die Erkenntnis: Auch sehr viele Dienstreisen waren relativ einfach zu ersetzen. Durch Videokonferenzen. Doof für Fluggesellschaften, Hotels und Seitensprungambitionen. Praktisch dagegen für Tagesgestaltung, Familienleben und Jogginghosenliebhaber*innen. Mittlerweile wissen wir, wie unsere Kolleg*innen wohnen, welche Bücher Expert*innen für Fernsehinterviews sorgsam in den Regalen hinter sich drapieren – und wie befreiend es sein kann, den Irrsinn, den manche Menschen so von sich geben, einfach stummschalten zu können.
Klebepfeile in Bahnhöfen
Es heißt ja immer, dass wir in Deutschland alles mit Vorschriften regeln. Dafür herrscht allerdings eine erstaunliche Anarchie im öffentlichen Raum, sofern man zu Fuß unterwegs ist, und das gilt auch für Bahnhöfe. Wobei es doch nur ein paar Metern Klebestreifen bedarf, um Treppen, die zu den Bahnsteigen führen, säuberlich in zwei Richtungen zu teilen, ganz wie man es von Auto- und Wasserstraßen kennt.
Zu Coronazeiten sollte das vor allem Infektionen verhindern, aber es sorgte – gerade zu Stoßzeiten, als an Bahnhöfen dann eben doch mal ein bisschen was los war – auch für einen geradezu geordneten Ablauf, ohne dass Menschen ineinanderliefen wie die Spieler beim American Football. Die Klebestreifen sind oft verblichen, aber immer noch da, manche Menschen halten sich unbewusst weiterhin an sie. Und dieses Konzept würde ja überall helfen, in Fußgängerzonen oder auf Bürgersteigen, wo man immer noch allzu oft in einen kleinen Tanz verfällt, wenn einem jemand entgegenkommt und beide mehrfach zur selben Seite auszuweichen versuchen.
Kontaktlos zahlen
Jahrzehntelang lautete das Motto in Deutschland: „Nur Bares ist Wahres“. Nun baten Schilder an hiesigen Supermarktkassen darum, statt mit virenbefallenem Bargeld möglichst kontaktlos zu bezahlen. Und wir übersprangen von einem Tag auf den anderen gleich mehrere Evolutionsstufen und wechselten direkt zum Bezahlen per Smartphone. Also: zumindest viele von uns. Oder manche. Egal! Die Zukunft hatte begonnen, als Nächstes sprossen Self-Scan-Kassen aus dem Boden und inzwischen gibt es gar Cafés, die kein Bargeld mehr akzeptieren.
Desinfektionsspender
Eine der ersten Lektionen der Pandemie war die Erkenntnis, dass wir uns alle immer viel zu kurz die Hände gewaschen hatten. (Wer zuvor schon mal eine öffentliche Toilette besucht hatte, wusste bereits: Ein nicht unerheblicher Anteil der Bevölkerung wäscht seine Hände gar nicht.) Jetzt sollte man zwei Mal „Happy Birthday“ oder wenigstens den Refrain von „Mr. Brightside“ von den Killers singen und ein seltsames Fingerballett aufführen, um die Viren (und anderen Dreck) wirklich loszuwerden.
Und wo gerade kein Waschbecken war, standen nun überall diese Spender mit Desinfekionsmitteln herum. Manche davon funktionierten sogar mit Sensoren, sodass man seine Hände nur nähern musste, und schon wurden diese in Eau de Zahnarztpraxis gebadet. Die Welt war ein einziger Krankenhausflur geworden, und zum ersten Mal dachten die Leute ernsthaft darüber nach, was sie auf dem Weg zur Arbeit alles angefasst hatten und was das für die Computertastatur und die Snacks am Schreibtisch bedeutet. Inzwischen wurden einige der Desinfektionsspender wieder abgebaut, viele weitere werden nicht mehr befüllt, und man braucht keine Studie, um zu ahnen: Diesen Rückschritt könnten wir mit einem höheren Krankenstand bezahlen.
Krank sein
Wir lernten, dass die Innenseite des Ellenbogens „Armbeuge“ heißt und man dort hineinniesen kann oder sogar sollte (statt in die Hand). Wir gewöhnten uns an die Masken in der Öffentlichkeit (oder, zur besseren Unterscheidung von Karneval: Mund-Nasen-Bedeckungen) – ein Hoch auf jene, die sie auch heute noch aufsetzen, wenn sie sich nicht ganz fit fühlen! Und auf die, die auch heute noch darauf verzichten, die ganze Abteilung anzustecken. Denn auch das hatten wir gelernt: Menschen mit leichten Erkältungssymptomen sollten bitte nicht mehr zur Arbeit kommen, im Sinne aller. Doch kaum hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, denkt der Chef der Allianz laut darüber nach, kranke Arbeitnehmer*innen mit der Androhung finanzieller Einbußen wieder an den Arbeitsplatz zu scheuchen.
Homeoffice
Als freier Journalist ist mein Weg zum Arbeitsplatz seit jeher meist der vom Bett zum Schreibtisch. Viele andere mussten sich zu Coronazeiten erst mal daran gewöhnen, aus der eigenen Wohnung ihrer Arbeit nachzugehen. Aber was technisch plötzlich alles möglich war! Unternehmen besorgten in kürzester Zeit Hard- und Software, um ihre Angestellten Homeoffice-tauglich zu machen. Die wiederum merkten, dass es geilere Sachen gibt, als zu pendeln. Manche stellten gar fest, dass es sich förderlich auf die Konzentration auswirkt, wenn man nicht acht Stunden auf einen Bildschirm starrt, sondern zum Ausgleich zwischendurch mal die Wäsche aufhängt oder die Spülmaschine ausräumt. Und als die Kinder zumindest hin und wieder in die Kita oder Schule gingen, war es regelrecht entspannt im Homeoffice.
Aber, ach – die ganzen Bürogebäude sind ja gebaut beziehungsweise gemietet, und viele Führungskräfte plagten Phantomschmerzen, weil sie ihre Untergebenen nicht mehr sahen oder gar mit ihnen in Meetings sitzen konnten. Viel von der Freiheit des Homeoffice wurde daher schnell wieder einkassiert. Ganz weggehen wird es aber nicht mehr, dafür ist es einfach zu gemütlich.
„Stand jetzt“
Zu den zweifelhaften Qualitäten der deutschen Sprache gehört es, wärmste Emotionen wie eine gesetzliche Verordnung zu benennen, ein Beispiel: „Zusammengehörigkeitsgefühl“. Aber in seltenen Momenten, wenn beamtendeutsche Präzision und protestantische Gottergebenheit aufeinandertreffen, können Dinge von einer ganz eigenen Schönheit und Poesie entstehen – und die Formulierung „Stand jetzt“ gehört definitiv dazu. Zwei Worte, die eine ganze Geisteshaltung verkörpern und die durch Corona noch geläufiger geworden sind: „Stand jetzt treffen wir uns nächste Woche, aber wer weiß, ob es dann nicht wieder eine Ausgangssperre gibt.“ „Stand jetzt brauchen Zuschauer für das Open-Air-Konzert einen Schnelltest.“ Der Satz stellt jede mittel- bis langfristige Planung in Frage; es ist alles Gegenwart, alles kann sich sofort komplett verändern. Ob weltpolitisch – Kriege, Terror, Pandemien – oder im Privaten, immer kann etwas dazwischenkommen und die Einladung zu einer Geburtstagsfeier durchkreuzen, sei es ein Trauerfall, eine Erkältung oder einfach die völlige Abwesenheit von Bock.
Taylor Swift
Klar, die Sängerin war schon vor der Pandemie ein internationaler Popstar. Aber mit ihren Aufforderungen, zu Hause zu bleiben, und der frühen, klaren Absage ihrer Welttournee übernahm sie gesellschaftliche Verantwortung – und spielte dann in den ersten drei Monaten des Lockdowns einfach mal ein Meisterwerk ein: „Folklore“ wurde zum Soundtrack des ersten Coronasommers und überzeugte selbst jene, die Swifts Musik bisher kritisch gegenübergestanden hatten. Mit „Evermore“ kam ein paar Monate später noch so ein großer Wurf. Und so war die Pandemie der Beginn von Taylor Swifts Wandel von einemPopstar zu dem größten Popstar unserer Gegenwart.
Selfcare auf Social Media
Sauerteig, Malbücher, Stricken, Linolschnitt – plötzlich brauchten wir alle ein indoorfähiges Hobby. Und noch dazu Schaumbäder, Gesichtsmasken sowie wahlweise Detox oder Daytime Drinking. Für einen kurzen Moment war es nicht nur gesellschaftlich akzeptiert, sondern sogar geboten, an sich selbst zu denken: Nur nicht verrückt werden bei all den Nachrichten, Veränderungen und Unsicherheiten! Soziale Medien wurden zu dem Ort, an dem wir zusammenkamen; gemeinsam allein. Aber auf Social Media konnte man auch all den Impfgegnern begegnen, die sich auf zweifelhaften Kanälen „fortgebildet“ hatten. Also jene Orte, an denen Elon Musk und Mark Zuckerberg heute Falschinformationen und Hetze nicht nur erlauben, sondern sogar vorantreiben. Also aus Trotz wieder mehr Sauerteig posten!
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