: Es ist ein Kraut gewachsen
Der Biermarkt steckt in seiner historisch tiefsten Krise, wenn es nach dem Umsatz geht. Aber man findet heute auch eine Vielfalt an Sorten und Stilen vor, die noch vor wenigen Jahre unvorstellbar war – und das sogar im unterentwickelten Norden
Von Jan-Paul Koopmann
Bier hat nicht den besten Ruf, wie man’s auch dreht und wendet: Gesundheitlich gilt es als gefährlich alltägliches Suchtmittel und Dickmacher, sozial als wesentlicher Treibstoff enthemmter Männerhorden. Wirtschaftlich betrachtet ist von den einst regionale Identität und Beschäftigung stiftenden Brauereien keine Rede mehr. Oder wenn doch, dann sind es Untergangserzählungen: der Absatz auf Talfahrt, verzweifelte Ramschpreise im Supermarkt, die Konzentration auf immer weniger, immer größere Konzerngruppen. Die sich dann bekanntlich eher wenig um die kulturellen Feinheiten ihrer für den Weltmarkt produzierenden Standorte kümmern.
Ja, selbst geschmacklich erwartet doch kaum wer was vom „Flüssigbrot“. Klar schnalzt man mal genüsslich zum Feierabend in der Kneipe – aber achten Sie doch mal auf das verständnislose Gesicht Ihres Kellners in der gehobenen Gastronomie – auf die Frage, welches Bier am besten zum zweiten Gang passt.
Natürlich ist das nicht die ganze Geschichte. Aber sie kommt nicht von ungefähr, sondern spiegelt ungefähr das wider, was man bei Brauereibesichtigungen, auf Messen und bei Tastings zu hören bekommt, von denen, die es wissen müssen. Umgekehrt klingt selbst der Enthusiasmus, mit dem Biersommeliers – also Berufsgenießer:innen mit Bildungsauftrag – von der Sache reden, mitunter fast märtyrerhaft: Da scheinen welche gegen Windmühlen zu kämpfen, selbst wenn sie auch im ausgehenden Jahr wieder neue Bierkreationen und wiederentdeckte Bierstile feiern konnten.
Einer, der sich von Branchenkrise und Bierflaute die Laune so gar nicht verderben lässt, ist John-Patrick Grande aus Hamburg. Er arbeitet bei Grainli, einem Großhändler für Tiernahrung, aber auch spezielle Braumalze; ein Zulieferer für Kleinstbrauereien und auch ein paar große. Naja, und irgendwie auch für sich selbst: Grainli macht inzwischen auch mit eigenem Bier von sich reden. „Barbarossa I Am“ heißt das Label, unter dem die Hamburger:innen mit schniekem Büro an der Binnenalster Spezialbiere der gehobenen Preisklasse produzieren: Gose, Porter, „Hansebock“ und seit kurzem auch ein Grutbier, das statt Hopfen mit Schafgarbe, Beifuß, Lavendel, Heidekraut gebraut wird.
Mit einem herkömmlichen Bier hat das satt-dunkle Gebräu auf den ersten Schluck nicht viel zu tun, selbst wenn man den geschmacklichen Horizont nicht direkt hinter Pils und Weizen zieht: Der Lavendel dominiert den Geruch, die Süße vom Malz erinnert ein bisschen an Trockenfrüchte – die fein abgestimmte Säure wiederum stammt vom Sherry-Fass, in dem das Bier reift. „Und?“ fragt John-Patrick Grande nach dem dritten Schluck, und kann sich das Grinsen nicht verkneifen. Dass sein Grutbier nicht jeden Geschmack trifft, ist ihm klar. Bei den ersten Tastings auf Hamburger Bier-Events war das Echo noch sehr gemischt. „Es polarisiert“, sagt der Erfinder, doch auch wenn noch keine professionelle Jury das Grut verkostet hat, pendeln sich die ersten Bewertungen auf der Publikums-gestützten Bewertungsplattform Untappd schon deutlich über dem Durchschnitt ein.
Grande freut das für die Marke, ein bisschen aber wohl auch für sich selbst. Das Grut ist sein erstes eigenes Bier unter dem eigenen Label. Für den Massenmarkt ist es trotzdem nichts. Das liegt am Lavendel, aber auch am Preis: Sieben Euro kostet die 0,33-Liter-Flasche, die große liegt bei 19,95 Euro, selbst gemessen an Qualitätsweinen nicht gerade ein Schnäppchen.
Für den Markt waren die Barbarossa-Biere ursprünglich auch gar nicht gedacht: Mit dem Brauen hat der Großhändler – von wegen Krise – als Coronaprojekt angefangen: als hochwertiges Gimmick für Geschäftskunden. Das ungewöhnliche Bier in durchdesignten schwarzen Flaschen kam gut an und findet inzwischen auch über Hamburg hinaus Fans.
„Unsere Biere erzählen Geschichten“, sagt Grande und das gilt fürs Grut ganz besonders. Kräuterbiere haben eine lange Tradition, speziell im deutschen Norden. Auch wenn das Barbarossa-Grut eher inspiriert ist von vorindustriellen Rezepten, als eines konkret nachzubauen, steckt doch ein Stück Kulturgeschichte in der neuen Sorte.
Mit dem Versuch, über die vergessene Vielfalt von einst, Marktnischen zu besetzen, ist „Barbarossa I am“ selbstredend nicht allein. In Bremen etwa beliefert die vor zehn Jahren neu gegründete Freie Brau Union Getränkemärkte und Kneipen nicht mehr nur mit Pils und Kräusen, sondern auch mit belgisch inspiriertem Witbier oder verschiedenen IPAs. Gerade erst hat man hier für den Bremer Freimarkt ein eigenes Festbier kreiert.
Ebenfalls in norddeutschen Supermärkten vertreten ist die Insel-Brauerei auf Rügen, die mit Porter, Stout, Champagnerbier, Saison, Triple oder Bitter nahezu die gesamte Palette europäischer Bierstile führt. Und von wegen Lokalkolorit: In Oldenburg braut die Ols-Brauerei neben Standardbieren für die lokale Gastronomie auch so was wie den „Grünen Anton“; dessen süffig-milde Säure stammt, klar, vom Grünkohl im Braukessel.
Aber zurück zur Krise: Die gibt es nämlich trotzdem, wie sich unmittelbar ablesen lässt am seit Jahren kontinuierlich fallenden Pro-Kopf-Bierverbrauch: 1980 lag der bei fast 150 Litern, heute sind es noch gut 80. Dazu kommt, dass die Branche auch von grundsätzlichen Schwierigkeiten wie steigenden Energiepreisen und Fachkräftemangel nicht verschont wird.
Gegen diese Tendenz mit Spezialisierung anzugehen, ist keine Frage von individueller Liebhaberei, sondern auch ein ganz bewusst gesetzter Schwenk. Vorbild sind hier die USA, wo dem über Jahrzehnte bis zur Ungenießbarkeit verwässerten Industriegebräus heute eine massiv wachsende Craftbier-Szene gegenübersteht, was wiederum wichtiger Impulsgeber ist für hiesige Kreativ- und Kleinstunternehmen.
Aber ist das überhaupt noch Bier, kann man sich fragen. Wenn das eine nach Lavendel riecht und das andere nach Koriander schmeckt? Gerade in Deutschland hatten historische Stile und Kreativbiere lange einen schweren Stand, weil man das Halbwissen über Reinheitsgebot hierzulande ja nun schon mit der Mutter-, ähm, -milch aufsaugt: Wasser, Malz, Hopfen, Hefe und das war’s. Aber das war eine historische Setzung – nach ein paar Tausend Jahren Biergeschichte: nicht völlig willkürlich, ein bisschen aber eben doch. Ländersache ist es noch dazu und außerhalb von Bayern gibt es grundsätzlich Ausnahme- und Sonderregeln.
Fest steht: Das berühmte Reinheitsgebot von 1516 und seine Vorläufer waren ein historisches Verdienst gegen Panscherei. Spätestens seit seiner PR-mäßig lancierten Renaissance im 20. Jahrhundert muss es aber vor allem als Versuch gelten, deutschem Bier einen Marktvorteil gegenüber günstigerer und – wie manche sagen – auch besserer Konkurrenz aus den EU-Nachbarländern zu verschaffen. Neun von zehn belgischen Produkten etwa sind nach deutschen Vorstellungen kein Bier. Außerdem ist die Frage auch nicht unberechtigt, was das für eine Reinheit sein soll, die mit Glyphosat im Malz und Filterung durch Mikroplastik weniger Probleme hat als mit Kräutern oder Haferflocken.
Man muss sich da nicht für eine Wahrheit entscheiden – wichtiger ist, dass man sich heute wieder für ein Bier entscheiden kann. Und wer weiß: Vielleicht liegt ja auch die wirtschaftliche Zukunft des ältesten Kulturgetränks der Welt nicht darin, dass alle wieder mehr trinken, sondern besser. Und interessanter.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen