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Und die Farbe denkt mit

Er schuf in Hamburg das größte Wandgemälde Nordeuropas und initiierte 1966 eine Weltmeisterschaft im Dauermalen: Der Maler Dieter Glasmacher wird dieses Jahr 85. Ein Besuch auf dem Land

Von Frank Keil

Manchmal ist kurz zu hören, dass Dieter Glasmacher ursprünglich vom Niederrhein kommt: Wenn er „Katalögchen“ sagt, für den er schnell ein „Kartönchen“ sucht, damit der überreichte Katalog nicht nass wird, wenn man sein Atelierhaus wieder verlässt und nach draußen muss in den Nieselregen. Überhaupt ist da so ein leichter, fröhlicher Singsang in seiner Stimme, wenn er einem eher knapp und pointiert denn ausschweifend antwortet.

Um das zu erleben, muss man raus aufs Land; muss, von Hamburg kommend, hinter Stade weiter Richtung Cuxhaven, dann nordwestwärts Richtung Elbe, um sich auf schmalen, einsamen und vom Frost zerfressenen Straßen vorwärts zu tasten. Neulandermoor heißt das Straßendorf, das sich zieht, und schnell denkt man, man ist zu weit gefahren. Aber dann lockt noch eine langgezogene Kurve und noch eine und schließlich ist man da: Rechts steht Glasmachers Wohnhaus mit heruntergezogenem Dach, links das Atelierhaus, ein ehemaliger Pferdestall mit großen Fenstern.

Seit gut 40 Jahren lebt er hier mit seiner Frau am Rand des Kehdinger Landes. „Wir sind hier gelandet, weil wir in Hamburg nichts Bezahlbares zum Wohnen und Arbeiten gefunden haben“, erzählt er. Hier draußen wurden sie fündig, auch wohnten hier und da schon Freunde von ihnen. Bis zum nächsten Supermarkt sind es etliche Kilometer, ohne Auto sei man aufgeschmissen, sagt Glasmacher – und mit Landschaftsmalerei habe er nichts am Hut. Aber gut arbeiten könne man hier. Weg vom Trubel.

Gerade ist er dabei, letzte Bilder zu sichten, zu überlegen, was er noch dazu­malen könnte. „Leichte Vorarbeiten“, so nennt er das. Denn Dieter Glasmacher wird in diesem Frühjahr 85 Jahre alt, und die Akademie der Künste in Hamburg, deren Mitglied er seit 1980 ist, wird ihm eine Retrospektive ausrichten. „Früher hat man einen Maler ausgestellt, weil er gute Bilder malte; heute stellt man einen Maler aus, weil er so alt geworden ist“, sagt Glasmacher. „Und weil er gute Bilder malt.“

Für seine Bilder nutzt er seit Jahrzehnten archiviertes Material aus Zeitungen und Illustrierten: banale Fotos, einst dramatische Schlagzeilen, verblüffendes Füllmaterial. Lässt sich davon inspirieren, hebt es auf grundierte Leinwand, fügt comichafte Figuren hinzu, übermalt sie, holt sie wieder hervor, ergänzt sie um knappe Textstücke, überarbeitet erneut.

Langsam entstehen so konzentrierte Bildtafeln, auf denen sich im Wortwitz angesiedelte Merksätze und die typischen Glasmacher-Gestalten immer wieder neu die Waage halten und zu denen Titel passen wie „Das muss GEÜBT werden“ oder „Farbe DENKT mit“. Er sagt: „Ich weiß nicht, wie ein Bild aussehen wird, wenn ich es anfange – da bin ich anders als die Konzeptjungs.“

Aufgewachsen ist er in Krefeld-Uerdingen. „Und zwar im Ratz-Viertel: Da lebten nur Arbeiter in Arbeiterhäusern, die dafür gebaut waren.“ Gut gegessen und gut getrunken habe man dort, die Atmosphäre sei herzlich gewesen. Aber Kunst? Er schüttelt den Kopf: „Da hingen keine Bilder. Da gab es auch keine Bibeln.“ Entsprechend fehlte jeder künstlerische Schub von zu Hause. „Meine Eltern waren meine Eltern“, sagt er lachend.

Glasmacher selbst hat schon immer gern gezeichnet. Gelernt hat er Patroneur und Musterzeichner: „Der Musterzeichner entwickelt das Muster für Stoffwebereien, der Patroneur bringt es in Form“, erklärt er. „Beide Berufe gibt es nicht mehr.“ Daneben hat Glasmacher Kurse an der Krefelder Werkkunstschule besucht. „Und dann hat einer erzählt, dass er an die Kunsthochschule gehen will, und ich dachte: Wenn der das macht, mache ich das auch.“ Außerdem wollte er weit weg vom Niederrhein, landete in Hamburg: „Ich weiß noch, wie ich im Wartesaal vom Hamburger Hauptbahnhof saß, so was gab es damals noch. Und wie ich dachte: Jeder ältere Mann mit Bart ist ein Professor.“

Er wurde selbst irgendwann Professor, mit Bart: von 1980 bis 1995 in Düsseldorf, dann bis 2003 in Hamburg, aber das dauert noch. Erst mal nimmt ihn die Hamburger Kunsthochschule auf, 1963 steht auf dem Kalenderblatt. Und waren die dann folgenden Jahre wirklich so wild, wie man es immer liest? Oh ja! Glasmacher beschreibt eine Zeit des Umbruchs und der Gegensätze: „Die abstrakte Malerei überschwemmte die Schule, und alle malten abstrakt, nur unsere Truppe nicht“, erzählt er. „Unsere Truppe“, das ist die Gruppe „CRUIZIN 4“, damals bestehend aus Dirk Zimmer, Hermann Priegan, Werner Nöfer und eben Glasmacher. „Es gab in Hamburg ja nur Paul Wunderlich und Horst Janßen, und dann kam unsere Generation: Hanne Darboven und Anna Oppermann, das waren schon gute Lichter, die da aufgingen – und wir vier auch ein bisschen.“

Den Durchbruch brachte 1970 die Gründung des „Instituts für Heintje Forschung“

Von Dada, von der Art Brut, von der Pop-Art beeinflusst, machten sie sich ans Werk, veranstalteten Happenings und Aktionen, statt nur Bilder an die Wand zu hängen. 1966 richteten sie in einer Studentenkneipe die „1. Weltmeisterschaft im Dauermalen“ aus, unter medizinischer Betreuung durch das örtliche Universitätsklinikum. Anvisiert waren 80 Stunden, nach 36 kollabierte der erste Teilnehmer, der anwesende Arzt greift ein.

1968 malte Glasmacher dann zusammen mit Werner Nöfer auf die Süd-Fassade des Musikclubs „Grünspan“ in der Großen Freiheit das Wandbild „Periskopisch“, das als erstes Wandbild Europas gilt – und als größtes in Nordeuropa. Demnächst wird restauriert, finanziert von der Kulturbehörde; sechsstellig die geschätzten Kosten. 2028 soll es wieder hergestellt sein. „Mal sehen, ob ich das noch erlebe“, sagt Glasmacher.

„Wollen wir uns nicht setzen?“, fragt er dann, räumt zwei Stühle frei. Um uns Regale mit den Ordnern mit Material aus Zeitungen und Magazinen für seine Bilder, dazu Tische mit Farben, Pinsel, Werkzeugen. In der Ecke erzählt das Radio, Glasmacher lässt es laufen, fühlt sich dann nicht so abgeschieden. Und jeden Tag ist er hier und malt und zeichnet? „Das ist hier so mein Leben.“

1970 hatte er, was man einen Durchbruch nennen könnte: Glasmacher gründete solo das „Institut für Heintje Forschung“. Der damals 13-jährige Heintje, ein singender Kinderstar aus den Niederlanden, spaltete die bundesdeutsche Gesellschaft: Die einen wandten sich mit Grausen ab, den anderen standen die Tränen in den Augen. Heintjes „Mama, du sollst doch nicht um deinen Jungen weinen“ war 1968 die meistverkaufte Single hierzulande – und nicht „Jumpin’Jack Flash“ von den Rolling Stones. Glasmacher erkannte das Potenzial, das in der künstlerischen Beschäftigung mit Alltagsphänomenen liegt: Er stellt Heintjes grüne Turnhose aus, Heintjes Haare und Heintjes Kamm.

Das Presseecho war enorm. „Die Bild hat als einzige nicht darüber berichtet“, sagt er heute. Dafür schickte ihn der NDR samt Kamerateam zu Heintje nach Hause. Man habe ein bisschen ratlos umeinander herumgestanden. „Aber ich habe Heintje noch vermessen“, so Glasmacher – „von wegen: wahre Größe. Die Vorgehensweise war ja, dass die Kunst aus dem Leben kommen sollte; und dass man das sehen konnte, und denken musste man das auch.“

Wir plaudern über seine Afrika-Reisen, die ihn Gelassenheit gelehrt hätten. In letzter Zeit habe die Lüneburger Sparkassen-Stiftung nach und nach sein Werk aufgekauft und werde sich um alles kümmern, später einmal.

Aber wäre jetzt nicht Zeit für einen Apfelkuchen? Einen schlichten Apfelkuchen, wie es ihn nur auf dem Land gibt. Wir huschen durch den Garten ins Wohnhaus, es nieselt verlässlich weiter, gestern lag im Garten noch Schnee, aber der war schnell wieder weg, und wer weiß, ob er noch mal kommt.

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