AfD und Erinnerungskultur: Zwischen Tabubruch und Selbstverharmlosung
Die AfD ist offen geschichtsrevisionistisch: Das zeigt sich im Wahlprogramm und in vielen Provokationen, kritisiert Historiker Jens-Christian Wagner.
Die Kernsätze im Programm, das von der Bundesprogrammkommission vorgeschlagen wurde, lauten: „Die offizielle Erinnerungskultur darf sich nicht nur auf die Tiefpunkte unserer Geschichte konzentrieren, sie muss auch die Höhepunkte im Blick haben. Ein Volk ohne Nationalbewusstsein kann auf die Dauer nicht bestehen.“ Die Partei will ihr Wahlprogramm am 11. und 12. Januar auf ihrem Parteitag in Riesa beschließen.
Der Historiker Jens-Christian Wagner, Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, kritisiert die Geschichtsklitterung der AfD deutlich und sagt zu diesen Kernsätzen: „Das muss man völkisch deuten. Hier scheint die alte These der Neuen Rechten schon aus den Sechzigern durch – vom angeblichen Nationalmasochismus, in dem wir uns alle suhlen würden.“
Das Programm atme die Ideologie der extremen Rechten. Insbesondere dem Satz, ein Volk könne ohne Nationalbewusstsein nicht existieren, liege ein völkisch-nationalistisches Geschichtsverständnis zugrunde. „Mit der Formulierung ist man nicht weit entfernt von der Höcke-Rede, in der er eine ‚erinnerungspolitische Wende um 180 Grad‘ forderte“, so Wagner. Mit Sätzen wie diesem strebe die AfD eine Abkehr von der Aufarbeitung des Nationalsozialismus an.
Wechselspiel zwischen Tabubruch und Selbstverharmlosung
Mit ihrem Geschichtsrevisionismus gehe die Partei strategisch in ein Wechselspiel zwischen Tabubruch und anschließender Selbstverharmlosung, sagt Wagner. Das vergleichsweise zurückhaltender formulierte Parteiprogramm komme dabei der Funktion Selbstverharmlosung zu – Tabubrüche geschähen dann regelmäßig in Reden oder etwa bei „Heldengedenken“ am Volkstrauertag. Diesen Gedenktag hatten die Nationalsozialisten in „Heldengedenken“ umbenannt – zuletzt hatten mehrere AfD-Politiker sowie die AfD-Jugendorganisation an so betitelten Veranstaltungen teilgenommen.
Wie solche Tabubrüche der AfD konkret funktionieren, zeigt ein Fall aus Thüringen. Dort hatte die Linke Mitte November im Landtag anlässlich des fünfzigjährigen Jahrestages der Befreiung am 8. Mai beantragt, für das Jahr 2025 das Datum als Feiertag festzulegen. Der AfD-Abgeordnete Sascha Schlösser sprach sich in seiner Rede dagegen aus: Er verwies stattdessen auf den 11. April, dem Tag der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora. Allerdings ging er nicht auf die Befreiung von Buchenwald an diesem Tag ein, sondern sagte: „Gehen sie nach Gispersleben [Anm. d. Red.: Stadtteil von Erfurt]. Da ist eine kleine Grabplatte. Da wurden am 11. April durch amerikanische Soldaten 50 blutjunge Soldaten erschossen.“
Schuldumkehr durch Falschdarstellung
Wagner sagte dazu: „Das ist eine besonders perfide Variante der Schuldumkehr.“ Schlössers Sätze seien eine Falschdarstellung: Der größte Teil der mindestens 45 dort gestorbenen Soldaten sei im Gefecht gefallen, zudem habe es sich bei den dort kämpfenden deutschen Einheiten mehrheitlich um Soldaten der Waffen-SS und reguläre Wehrmachtssoldaten sowie Angehörige des ‚Volkssturms‘ unter dem Kommando eines SS-Obersturmführers gehandelt.
Am 11. April hätten diese bei einem Gegenangriff an mindestens zwei Stellen Amerikaner gelyncht, die sich bereits ergeben hatten – ein Kriegsverbrechen. Die amerikanischen Einheiten, die einige Tage zuvor das KZ-Außenlager im thüringischen Ohrdruf befreit und die dortigen Massengräber gesehen hatten, beschlossen daraufhin mit besonderer Härte gegen die SS vorzugehen und keine Gefangenen zu nehmen – anschließend erschossen sie auch SS-Gefangene – ebenfalls ein Verstoß gegen das Kriegsrecht.
„Schlösser nennt die aufgerundete Zahl von 50 und vermischt die im Gefecht Gefallenen mit den Erschossenen. Alle Deutschen sind in dieser Logik Opfer alliierter Willkür“, so Wagner. Dass viele der Gefallenen jung gewesen seien, spreche vor allem gegen das NS-Regime, das junge Menschen bis zuletzt an die Front zwang. Wagner sagte weiter: „Schlösser versucht, die Opfer der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dort gegen die getöteten deutschen Soldaten und SS-Angehörigen in Gispertsleben auszuspielen und zeigt damit, was unter der von Höcke geforderten erinnerungspolitischen Wende zu verstehen ist: Statt der Opfer der Konzentrationslager soll Angehörigen der verbrecherischen SS gedacht werden.“ Zuletzt hatten auch Parteigrößen die Schuld der SS relativiert – Parteichef Tino Chrupalla etwa und auch Maximilian Krah, der als Direktkandidat für die Bundestagswahl antritt.
Gegen Dekolonisierung
Eine nationalistische Erinnerungs- und Geschichtspolitik zeigt sich aber auch auf anderen Feldern: Ähnliche Geschichtsumdeutungen wie zum Nationalsozialismus will die AfD auch in kolonialen Unrechtskontexten durchsetzen, wie ihr Programm weiter verrät. Darin heißt es, man wende sich gegen „die zunehmend aggressiven Versuche einer ideologisch geprägten, moralisierenden Umdeutung der Geschichte“, die sich etwa an der „Schleifung von Denkmälern“ und „Umbenennungen von Straßen“ festmache.
Die Debatte um „eine angeblich notwendige Dekolonialisierung, die mit einer Verteufelung des ‚weißen Mannes‘ einhergeht, stellt das Selbstverständnis unserer kulturellen Identität insgesamt infrage.“ Die „Critical Race Theory“ lehne man ab. Ebenso eine Rückgabe von „Sammlungsgütern aus kolonialen Kontexten“. Gemeint sind damit im kolonialen Unrechtskontexten geraubte Kunst, Schätze, aber auch menschliche Überreste.
Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus erwähnt die AfD im Abschnitt zu „Gedenken“ überhaupt nicht – dafür wolle man aber „Mahnmal und ein Informationszentrum für die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft errichten“.
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