: „Anfangs liebten alle Gidon“
Er hat den Holocaust überlebt und wurde zum Tiktok-Star. Mit Co-Autorin Julie Gray veröffentlichte Gidon Lev seine Memoiren. Ein Gespräch mit dem Autorenpaar darüber, warum Holocaustüberlebende mehr als nützliche Opfer sind und wir alle Hoffnung brauchen
Interview Jonathan Guggenberger
taz: Herr Lev, Frau Gray, bis kurz nach dem 7. Oktober 2023 betrieben Sie einen erfolgreichen Tiktok-Account. Dort klärten Sie über den Holocaust auf und warben für Toleranz. Wegen einer Flut an antisemitischen Kommentaren verließen Sie die Plattform. Jetzt sind Sie zurück und haben sogar ein Buch darüber gemacht. Wie kam es dazu?
Julie Gray: Das ist bereits unser zweites Buch, „The True Adventures of Gidon Lev“ war das erste. Wir haben es im Selbstverlag veröffentlicht. Und für diese Umstände lief es ganz gut. Aber erst durch Tiktok wurde Gidons Geschichte von Millionen Menschen wahrgenommen. Danach begann ich, verschiedene Agenten in New York, Los Angeles und London zu kontaktieren, ob nicht auch reguläre Verlage Interesse hätten, Gidons Geschichte als Buch zu veröffentlichen. Und plötzlich fanden wir einen, der sofort zugesagt hat, das erste Buch noch mal aufzulegen, unter einer Bedingung: mehr Fokus auf die Hoffnung, die Gidon als Überlebender des Holocaust ausstrahlt.
Gidon Lev: Julie ist zu bescheiden. Es gäbe kein Buch ohne sie. Sie war der Hauptantrieb. Ich habe meine Geschichte beigesteuert und die ersten Entwürfe verfasst. Sie als Autorin hat die wirkliche Expertise und das Wissen. Ohne sie säße ich heute nicht hier.
taz: Und welche Rolle spielte Tiktok?
Gray: Das ist lustig. Nachdem ich das erste Buch 2019 bei vielen Agenten und Verlagen angeboten hatte, bekam ich nur Absagen. Alle sagten: „Der Holocaust ist zu deprimierend, niemand möchte mehr etwas über den Holocaust lesen.“ Das konnte ich natürlich nicht akzeptieren, weshalb wir das Buch selbst veröffentlichten und mit Tiktok anfingen. Als ich jetzt vier Jahre später noch mal anklopfte und sagte, ich habe dieses Buch hier von einem Social-Media-Star, machten alle große Augen. Und das war noch vor dem Krieg.
taz: Jetzt ist der Holocaust also wieder von Interesse?
Lev: Es ist mehr als das. Mein erstes Buch beschäftigte sich tatsächlich gar nicht so sehr mit dem Holocaust. Es ging mehr um mein gesamtes Leben. Klar, ich habe als Kind sieben Jahre meines Lebens unter Nazi-Herrschaft verbracht, vier davon im Ghetto von Theresienstadt. Aber der Rest meines Buches handelte vom Danach. Wissen Sie, ich habe auch ein Leben nach dem Holocaust gehabt – mit guten wie schlechten, vor allem aber mit sehr vielen erkenntnisreichen Erfahrungen. Viele wollten diesen Gedanken damals nicht ernst nehmen. Vielleicht hat sich das jetzt geändert.
Gray: Ich als Autorin wollte Gidons Leben nie auf den Holocaust reduzieren. Und das ist sehr wichtig zu betonen. Denn zu oft werden Überlebende des Holocaust zu Instrumenten gemacht, reduziert darauf, Opfer zu sein. Gidon weigert sich, so ein Abziehbild zu sein.
taz: Gerade in Deutschland scheint das oft zu geschehen. Dem Land, das den Holocaust verantwortet – mit dessen Sprache Sie aufgewachsen sind. Wie fühlt es sich an, Ihre eigenen Worte in dieser Sprache zu lesen?
Lev: Wie ein Triumph (lacht). Nach allem, was die Nazis Juden wie mir und meiner Familie angetan haben, fühlt es sich an, wie ein Triumph des Guten über das Böse.
Gidon Lev wurde 1935 im tschechischen Karlovy Vary geboren. Als einer von wenigen seiner Familie überlebte er den Holocaust im Konzentrationslager Theresienstadt. 1959 emigrierte er nach Israel und wurde Landwirt in einem Kibbuz.
Julie Gray wurde 1964 in Kalifornien geboren. 2012 lernte sie Gidon Lev kennen und zog zu ihm nach Israel. Sie schreibt u. a. für die Times of Israel und engagiert sich in Friedensinitiativen. Seit 2021 betreiben beide einen Tiktok-Kanal, auf dem sie über den Holocaust aufklären.
Das Buch: „Let‘s make things better! Ein Holocaust-Überlebender über die Macht des Positiven“. Mosaik, München 2024, 224 Seiten, 22 Euro
taz: Findet das Böse Platz in Ihrem Buch?
Lev: Ich spreche nur über ganz bestimmte Dinge, die mir und meiner Familie angetan wurden. Es gab Situationen, die ich erlebt habe, die ich noch immer nicht schildern kann. Erfahrungen, die mein Vorstellungsvermögen heute noch übersteigen. Es mag komisch klingen, aber ich sage immer, ich bin flabbergasted – verblüfft, wie ein Mensch einem anderen so etwas antun kann.
taz: Ihr Buch trägt trotzdem den Titel „Let’s make things better“ und ist der Hoffnung gewidmet. Woher kommt dieser Wille zum Guten?
Gray: Wenn ich wüsste, woher Gidon immer diese Hoffnung nimmt … jeder fragt sich das.
Lev: Wenn ich Ihnen erzählen würde, was ich alles durchstehen musste in meinen fast 90 Jahren – als 10-Jähriger ohne Vater und Familie, oder später, während des Sechstagekriegs 1967 … Aber wo stünde ich, wenn ich nicht immer einen Funken Hoffnung gehabt hätte? Daran geglaubt hätte, dass sich wirklich etwas ändern wird, dass ich das Schlechte in meinem Leben überwinden kann?
taz: Heute leben Sie beide in der Nähe von Tel Aviv. Behalten Sie auch die Hoffnung, dass zwischen Israelis und Palästinensern Frieden herrschen kann?
Gray: Zehn Tage, nachdem der Krieg begonnen hatte, bekam ich große Angst. Fünfmal am Tag mussten wir in den Bunker rennen und dann war da noch der Schock des 7. Oktober. Gidon aber blieb ruhig. Er sagte einfach: „Julie, kannst du dir etwas Besseres vorstellen als das?“ „Ja, natürlich, aber ich sehe nicht, wie“, sagte ich. Gidon bewahrte immer noch Ruhe und sagte zu mir: „Das ist egal. Das Einzige, was zählt, ist, dass du es dir vorstellen kannst.“
Lev: Es stimmt. Das war auch immer schon mein Problem mit Bibi, mit Netanjahu: Er ist ein Re-Visionär. Er kann sich die schlimmste Zukunft für uns alle vorstellen. Er kann sich vorstellen, wie er am besten Schaden anrichten kann oder Menschen umbringt. Aber eine Vision, wie es anders sein könnte, wie wir den Krieg und den Konflikt beenden können, hat er nicht. Ihm mangelt es an Visionen. Die einzige Vision, die er hat, lautet, Israel „from the river to the sea“. Und als die Hamas uns am 7. Oktober überfiel, sagte die das Gleiche. Auch wenn sie natürlich etwas anderes damit meinte. Beide sind eine Gefahr für das demokratische, offene Israel – für die Vision des Zionismus.
taz: Was empfehlen Sie denen, die Visionen wollen und nicht Fatalismus oder Angst?
Lev: Sie sollten sich selbst fragen: Will ich wirklich, dass es besser wird? Zu oft hängen Menschen in dieser düsteren Stimmung fest – sind süchtig danach. Gerade auch durch Social Media. Sie tauschen Visionen gegen Bedürfnisse. Und die sollen möglichst schnell erfüllt werden. Aber wir müssen starrköpfiger sein. Uns immer wieder bewusst gegen die Hoffnungslosigkeit entscheiden; gegen das Bedürfnis, der Angst, der Wut und dem Hass nachzugeben. Auf Social Media heißt das beispielsweise, immer und immer wieder zu hinterfragen, was wir da sehen, was es eigentlich mit uns und unseren Gefühlen macht.
Gray: Als wir auf Tiktok anfingen, dachte ich wirklich, wir könnte Fortschritte machen mit der Aufklärung über den Holocaust. Wir könnten Leute wirklich erreichen. Aber Social Media funktioniert nur auf zwei Weisen: Cuteness oder Hass. Anfangs liebten die Menschen Gidon übertrieben. Nur: Like, Like, Like. Dann kam der 7. Oktober und es kippte: Hass, Hass, Hass.
taz: Was entgegnen Sie dem Hass?
Lev: Als ich in der Highschool war, zwang uns unser Lehrer, ein 20 Zeilen langes Gedicht auswendig zu lernen. Ich wählte Marcus Antonius’Rede zum römischen Volk von Shakespeare: „Mitbürger! Freunde! Römer! Begraben will ich Cäsar, nicht ihn preisen.“ So bringt Marcus Antonius innerhalb weniger Minuten die Menge gegen Brutus auf – ohne ihn direkt anzugreifen. Ich mache das Gleiche. Die Menschen müssen selbst erkennen, warum Judenhass falsch ist. Ich kann ihnen nur zeigen, wohin er führt. Und auch das ist nur ein Anfang.
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