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„Der Tod ist unser ungeliebter Mitspieler“

Durch Theater in eine andere Welt einzutauchen, kann eine spannende Erfahrung sein. In ein Theaterhaus muss man dafür nicht unbedingt gehen. Das zeigt das Theater­ensemble Papillons und seine Spielstätte – das F2 Theater im Pflegewohnheim

Ein Szenenfoto der diesjährigen Inszenierung „Die Anprobe“ des Theater­ensembles Papillons Fotos: Nils Stelte

Von Karlotta Ehrenberg

Wer bist du?“ – „Ich bin dein Blauauge.“ – „Mensch, dass ich dich sehe!“ – „Komm, wir tanzen.“ – Let’s dance, wie früher!“ Eine Begegnung im Jenseits, an einem Nachmittag im November. Der Saal eines Kreuzberger Pflegewohnheims ist zu einer Bühne umgebaut. Darauf: Elf Be­woh­ne­r:in­nen der Einrichtung, alle zwischen 80 und 100 Jahre alt, viele von ihnen mit Demenz. Zu der Welt draußen haben sie nur wenig Kontakt, aber egal – heute kommt die Welt zu ihnen: neun Kinder und Jugendliche sowie sechs Profis, die mit ihnen Theater machen, dazu kommen etliche ehrenamtliche Helfer:innen. Rund 85 Zu­schaue­r:in­nen sind zudem da, um sich im F2 Theater im Pflegewohnheim das Musiktheaterstück „Die Anprobe“ anzusehen.

„Viele, vor allem junge Leute, sagen uns: wir sind zum ersten Mal in einem Pflegeheim. Da schwingen viele Vorurteile und auch Ängste mit, die sich jedoch nicht einlösen. Stattdessen erleben die Leute ein besonderes Theaterereignis“, sagt Christine Vogt. Sie ist die Initiatorin und Leiterin des Theaterensembles Papillons, mit dem sie seit rund acht Jahren Stücke entwickelt und auf die Bühne bringt.

Theater mit Menschen zu machen, die nicht der Norm entsprechen und deshalb am Rand der Gesellschaft leben, ist für Christine Vogt normal. Fast drei Jahrzehnte hat die 68-jährige Theatermacherin mit psychisch oder körperlich beeinträchtigten Menschen gearbeitet. Auf die Idee, Theater in einem Pflegewohnheim zu machen, brachte sie eine Mitarbeiterin ihres Vaters, die an Demenz erkrankt war. „Dieses Oszillieren zwischen da und nicht da, das hatte mich sehr angerührt“, erinnert sich Vogt.

Zu Beginn sei sie mit einem Rucksack voll Requisiten und Musik von einer Tagespflegestelle zur nächsten gereist. Auf Dauer sei das aber viel zu aufwändig gewesen. So habe sie sich bei einem Pflegewohnheim des Unionhilfswerks in ihrer Nähe vorgestellt. „Die Leitung war von Anfang an sehr aufgeschlossen“, erzählt Vogt. Zwar gab es kein Geld für Künstlerhonorare, in der Geschäftsführung kam man jedoch auf eine andere Idee: „Ich habe eine Ausbildung als Betreuungsassistenz gemacht und bin fest angestellt worden, um mit den alten Leuten künstlerisch zu arbeiten“, sagt Vogt. „Das war quasi ein Modellversuch und wäre ohne eine solch engagierte Leitung gar nicht möglich gewesen.“

Das Experiment ist aufgegangen, und auch jetzt, nach ihrem Renteneintritt, trainiert Vogt jede Woche mit Be­woh­ne­r:in­nen aus dem Kreuzberger Wohnheim Schauspiel und Gesang. In Zusammenarbeit mit Profis aus der Theaterwelt entwickelt sie Projekte, von denen mindestens eins pro Jahr zur Aufführung kommt. Auch in der Coronazeit wurde die Arbeit fortgeführt, die Be­woh­ne­r:in­nen spielten vom Balkon aus und sprachen Podcasts ein, und ein Film wurde gedreht. „In dieser Zeit sind auch die Kinder zu uns gekommen“, berichtet Vogt. „Eine Lehrerin der Rütli-Schule schrieb uns, dass sich einige ihrer Schülerinnen fragten, wie es den alten Menschen geht. Daraufhin habe ich zwischen den Alten und Kindern Partnerschaften entwickelt. Zuerst gab es Zoom-Konferenzen, dann haben wir uns im Park getroffen und schließlich begonnen, zusammen Theater zu machen.“

Zwei der Schülerinnen sind nach wie vor dabei, und auch heute noch wird jedem alten Ensemblemitglied ein Kind zur Seite gestellt. „In welchem Kleid möchtest du im Gedächtnis bleiben?“, fragen die Kinder zu Beginn des neuen Stücks. Manchmal kommen die Antworten spontan, manchmal brauchen die Älteren beim Erzählen Unterstützung. Ob nun ein Hochzeitskleid, eine mit Orden bestückte Uniform oder das Gewand eines Doktoranden – sie alle sind Erinnerung und Symbol für das, was die alten Menschen erlebt und erreicht haben.

Die Kinder und Jugendlichen malen die Kleidungsstücke auf, sie kleiden die alten Leute ein und schminken sie. Dass sich ihre Spielpartner etwas sonderbar benehmen, stört sie dabei nicht. Vielmehr sind die Kinder bemüht, das gemeinsame Spiel möglich zu machen, indem sie ihren Part­ne­r:in­nen zum Mikrofon oder zurück zum Faden verhelfen. Vor allem aber animieren sie die Alten, von sich und ihrem Leben zu berichten.

„Ich gehe immer vom Biografischen aus“, sagt Christine Vogt über ihre Arbeit. Dass Menschen mit Demenz Schwierigkeiten hätten, sich einen fremden Text zu merken, sei nicht der alleinige Grund dafür. „Die persönlichen Geschichten interessieren mich. In ihnen ist immer auch etwas Historisches“, sagt Vogt, die neben ihrer Theaterarbeit auch Kulturwissenschaft betreibt.

Der Zugang zu den verschütteten Erinnerungen gelingt über Musik. Christine Vogt lässt die alten Menschen ihre Lieblingslieder singen, auf der Mundharmonika spielen und sogar jodeln. Auch persönliche Gegenstände sind Katalysatoren in der Erinnerungsarbeit, weiß Vogt. Die Interviews, die sie mit den Alten führt, geben die Grundlage für ihre Projekte, vieles aus den Gesprächen fließt direkt in Theatertext und Inszenierung ein.

So hält Udo Thiel – eine mit rotem Stern gezierte Baskenmütze auf dem Kopf – eine Rede, die er 1963 schon mal gehalten hat: „Habt Spaß beim Kiffen! Aber raucht nicht zu viel. Dann habt ihr den Kopf frei für die politische Aktion.“ Dass ein professioneller Schauspieler (Michael Hanemann) hinter Thiel steht und ihm jede Zeile vorsagt, schwächt die Wirkung nicht. Im Gegenteil wird gerade dadurch deutlich, dass der eine „nur“ spricht, während der andere diese Zeilen leibhaftig verkörpert. Dass die Zu­schaue­r:in­nen über Thiels spontanen Einschub „Mehr als vier Joints ist Schwachsinn!“ lachen müssen und ihnen gleichzeitig Tränen der Rührung in die Augen schießen, macht das enorme emotionale Potenzial dieser Theaterarbeit aus. Denn so lustig die Szene auch ist – jedem ist in diesem Moment klar, dass auch der stärkste jugendliche Held irgendwann dem Tod entgegensieht.

Papillons

Die Gründerin

Die Theatermacherin und Kulturwissenschaftlerin Christine Vogt kommt ursprünglich aus der Schweiz. 1990 hat sie das Theater Thikwà Berlin für Dar­stel­le­r*in­nen mit und ohne Behinderungen gegründet, das sie bis 2004 co-leitete. Danach gründete und leitete sie die Theatergruppe piloti storti der Spastikerhilfe e. V. Seit 2016 arbeitet sie mit demenzkranken Menschen.

Spenden erbeten

Ermöglicht wird die Arbeit des Theaterensembles Papillons von der Stiftung Unionhilfswerk Berlin und Dank des Engagements und der Spendenbereitschaft zahlreicher Unterstützer. Spenden und Ehrenamtliche werden für die Arbeit auch zukünftig dringend gebraucht. Infos dazu auf: unionhilfswerk.de/papillons. (keh)

„Der Tod ist unser ungeliebter Mitspieler, der ist immer da“, sagt Regisseurin Vogt. Aber wie geht die Theatermacherin damit um, dass das Ensemble, das sie mit viel Mühe aufgebaut hat, permanent vom Tod bedroht ist? „Es ist komisch, aber diese Frage stelle ich mir gar nicht“, antwortet sie. „Sonst könnte ich auch gar nicht im Pflegeheim arbeiten.“

Im Moment präsent zu sein, das ist gefragt. Christine Vogt scheint dies gut zu gelingen, immer wieder gilt es spontan zu reagieren, denn an einen Inszenierungsplan halten sich Menschen mit Demenz oft nicht. „Meine Art zu inszenieren hat eine ganz einfache, klare Struktur“, sagt Vogt. „In diesem Rahmen ist auch Unvorhergesehenes möglich.“ Dass sich eine Akteurin lauthals beschwert, ein Akteur seinen Text nicht sagt oder mehr spricht als geplant, ja, dass auch die Kinder mit Requisiten spielen und ihren Einsatz verpassen, das alles kann und darf hier passieren.

Große Eingriffe braucht es meist nicht, um Ablauf und Timing zu bewahren, berichtet Regisseurin Vogt: „Bernd sagte gestern in meine Richtung: Jetzt möchte ich eine Zigarette. – Wenn du noch bleibst, dann kriegst du nachher drei, hab ich geantwortet. Damit war er einverstanden.“ Zwar passiere es, dass ein Darsteller die Szene verlasse, um rauchen oder auf Toilette zu gehen, erzählt Vogt. Auf solche Situationen sei sie jedoch vorbereitet: „Zur Not kann ich in jede Rolle spontan einspringen.“ Notwendig sei das bisher aber nicht gewesen. „Bisher kam noch jeder rechtzeitig zu seinem Auftritt zurück.“

Neubesetzungen, die wurden allerdings schon nötig im Laufe der Jahre. Mehrere Ensemblemitglieder sind gestorben, zuletzt zwei Akteurinnen der aktuellen Inszenierung. „Das ist jedes Mal eine große Herausforderung“, sagt Vogt. „Aber mir fällt immer etwas ein.“ So habe sie eine der beiden Verstorbenen durch eine der Jugendlichen ersetzt, die diese alte Dame nun spielt. Die andere Frau werde von einer Betreuerin verkörpert, den Text spreche die Verstorbene jedoch nach wie vor selbst – von Band, Vogt hat die Interviews mit den Alten aufgezeichnet. Das Ergebnis zeigt: Der Tod hat dem Stück nicht nur etwas genommen, sondern ihm auch eine zusätzliche Schicht hinzugefügt.

Die Kinder schminken die alten Leute, bevor das Stück beginnt

Aber wie reagiert die Theatergruppe, wenn ein Teil von ihr plötzlich fehlt? „Die Alten haben meist schon einen Tag später vergessen, dass jemand gestorben ist. Im Gefühl ist das aber noch da. Und natürlich sind die Kinder traurig, so wie ich und die anderen Künstler auch“, sagt Vogt. „Diese Trauer darf nicht unter den Teppich gekehrt werden. Deswegen haben wir vor der Wiederaufnahme des Stücks einen Kreis gemacht, haben uns Bilder der Verstorbenen angeschaut und uns an sie erinnert.“

Der Tod steckt auch in den Klang- und Bildcollagen, die über das Spiel hinaus eine Idee von dem Jenseits geben, das sich die alten Menschen vorstellen. Die Frage, ob sie bereit seien, die Himmelsleiter empor zu steigen, verneinen sie alle. „Ich bleibe hier in der Hölle!“, ruft etwa Heidi Neumann und erntet einen Lacher.

Zum Schluss steht fest: Die Ak­teu­r:in­nen des Theaterensembles Papillons haben noch einiges vor. Im Juli 2025 kommt ihr neues Stück auf die Bühne.

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