: Die Stadt der Politisch Motivierten Schlampen
Die Flinta*-Graffiti-Crew PMS erobert die männerdominierte Sprayerszene. Ihre antifaschistischen,antikapitalistischen und feministischen Malereien prägen das Berliner Stadtbild
Von Lilly Schröder
Das Schloss der Eingangstür knackt Leo* in wenigen Sekunden mit einer Karte. Lautlos schleichen Ella* und Leo das knarzige Treppenhaus hoch, in ihren Taschen klirren die Sprühdosen. Auf dem Dachboden riecht es nach feuchtem Holz und Staub. Routiniert klettern sie eine Holzleiter hoch und treten hinaus aufs Dach. Die Flinta* atmen die kalte Novemberluft ein und betrachten stolz ihr Werk: „PMS“ prangt auf dem Dach gegenüber vom S-Bahnhof Schönhauser Allee.
„Ich liebe es, durch Berlin zu laufen und zu sehen, wer sich in der Stadt verewigt, wer schon hier war“, erzählt Leo. Sie ist seit zwei Jahren Teil der Flinta* Graffiti-Crew PMS, die sich die Stadt von unten aneignet. Ihre „Clit“-, „Hoes b4 Bros-“ und „PMS“-Graffiti sind aus dem Stadtbild kaum noch wegzudenken. „Aktiv sind wir vor allem im Nordosten, Kreuzberg, Neukölln und in Brandenburg“, erzählt sie.
Nicht nur die Stadt eignet sich die Crew an, auch patriarchal geprägte Sprache. PMS, oft abwertend synonym für hysterische Frauen verwendet, interpretieren sie neu: Politisch Motivierte Schlampen. Die Crew verbindet feministische, antifaschistische und antikapitalistische Botschaften mit Kunst. Auf Klos taggen sie: „Nicht nur Schwänze müssen pissen – kostenlose WCs für alle“; auf Hauswänden: „Mieten runter, Wände bunter“. DHL-Lastwagen kriegen „Bestellt weniger Scheiß“-Tags verpasst, Amazon-Abholstationen „Amazon enteignen“, und auf Mülleimern prangt: „Warum ist es der Flüchtling, der dir Angst macht, und nicht die Nazis im Landtag?“
Gegründet hat Ella die Crew 2019 mit Freundinnen. „Wir wollten etwas gegen die vielen rassistischen Graffiti im Stadtbild tun“, erzählt sie an diesem Novemberabend. Einige hätten schon Erfahrung mit dem Malen gehabt, andere hätten es sich erst beigebracht. „Während der Pandemie war unsere Hochzeit, weil wegen des Lockdowns niemand auf den Straßen war“, sagt sie. Heute besteht die Crew aus 5 bis 15 Flinta*, eine genaue Zahl möchte sie aus Schutzgründen nicht nennen. Ihre Aktionskunst stößt auf Begeisterung: 14.000 Follower hat die Instagram-Seite inzwischen, die ihre Malereien dokumentiert.
„Wir nehmen uns nicht so ernst“, sagt Ella gelassen. „Aber dadurch nimmt die Szene uns auch nicht so ernst.“ Das liege auch daran, dass Flinta* in der männlich dominierten Subkultur weiterhin die Fähigkeit zu malen abgesprochen werde. Denn: „Malen erfordert Eigenschaften, die traditionell Männern zugeschrieben werden: Mut, Schnelligkeit und Stärke. Außerdem ist es gefährlich, man muss nachts raus in dunkle Ecken.“
Dass Flinta* das Handwerk genauso beherrschen, beweist PMS. „Eine Dachaktion braucht viel Planung“, erklärt Leo: „Streichfarbe kaufen, einen Termin ausmachen, gucken, wer Lust hat dabei zu sein und das wichtigste, einen Checker finden (eine Person, die aufpasst). Dann noch vorab alle Türen öffnen und einen Fluchtweg auskundschaften.“ Die Eingangstüren öffnen sie meist schon gegen 18 Uhr mit einer Karte. „An der obigen Tür und Dachluke müssen wir manchmal mit einer Brechstange ran. Um die Uhrzeit wundert sich selten jemand über ein lautes Geräusch im Hausflur“, erklärt sie. Die Aktionen starten meist erst gegen Mitternacht, wenn die Straßen leerer sind. Oben auf dem Dach legen sich die Flinta* an die Kante und malen mit langen Farbrollen hinunter. Der Rückweg, oft um 3 oder 4 Uhr morgens, erfordert viel Vorsicht: „Da muss man besonders leise sein“, sagt Leo. Einen Fluchtweg parat zu haben, sei immer gut.
Denn für ihr Hobby können ihnen hohe Strafen drohen wegen Vandalismus, Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch oder gar wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung. PMS nutzt die Crew daher auch als Abkürzung für Politisch Motivierte Straftaten. Je nach Beweislage können die Strafen von Geld- bis zu Haftstrafen reichen. Allein für die Beschriftung eines Bankomaten habe eine Bekannte 1.000 Euro Strafe zahlen müssen, erzählt Ella. Daher gilt in brenzligen Situationen: Dosen, Pinsel, Farben und alles, was als Beweis dienen könnte, wegzuwerfen oder zu verstecken. Handys bleiben bei Aktionen zu Hause, Skizzen werden versteckt, alles Digitale ist verschlüsselt.
„Sprüher sind die dümmsten Gauner“, habe ein Freund mal zu ihr gesagt, erzählt Leo lachend. „Sie machen nur Minus“: Sprühdosen, Farbe, Rollen und Teleskopstangen sind teuer, hinzu kommen die hohen Repressionskosten. Zur Deckung von Anwaltskosten und Schadenersatzforderungen verkauft PMS unter anderem Siebdruck-Shirts – damit sind die Kosten jedoch längst nicht gedeckt. Was motiviert sie trotz alledem?
„Es ist toll, politische Botschaften an die Wand zu bringen“, sagt Leo. Viele ihrer Ideen entstünden spontan, zu besonderen Gedenk- oder Feiertagen planen sie gezielt Aktionen. Am 8. März organisierten sie etwa eine Party mit Freund*innen in der U2, verkleideten sich und taggten den gesamten Waggon mit feministischen und antirassistischen Parolen zu. „Das war unglaublich empowernd für uns“, erzählt Ella.
Auf Instagram kritisierte jedoch eine Nutzerin, dass die Aktion ignorant sei: „Im Reinigungsgewerbe arbeiten überwiegend Frauen und Menschen mit Migrationsgeschichte.“ Ella protestiert: „Das Problem ist größer als wir. Das ist ein Systemfehler.“
Für die Graffitibeseitigung, vor allem auf Denkmälern, geben die Bezirke und der Senat jährlich erhebliche Summen aus. Dem Bezirk Pankow etwa standen dafür 2024 20.000 Euro aus dem Programm „Saubere Stadt“ zur Verfügung. 2021 beliefen sich die Ausgaben für die Graffiti-Entfernung auf 21.000 Euro, davon 13.300 für die Reinigung des Ernst-Thälmann-Denkmals, das bei Sprühern (darunter auch PMS) besondere Aufmerksamkeit genießt. Es gibt sogar eine Instagram-Seite, die sich den Graffiti auf dem Denkmal widmet.
In den Medien werden die Malereien auf dem Denkmal derweil als „Negativ-Visitenkarte für Berlin“ diffamiert. Die Frage, ob (politisches) Graffito im öffentlichen Raum Vandalismus oder urbane Kunst ist, ist eine, die die Gemüter erhitzt. Die Stadt geht mit zweierlei Maß vor: Während sie sich mit der Subkultur rühmt, Graffititouren für Tourist*innen anbietet und bunte Hausfassaden zu Stadtmarketingzwecken nutzt, werden die Künstler*innen für die Aneignung des urbanen Raums bestraft.
„Der legale Teil wird immer größer. Graffito ist kunstfähig geworden“, sagt Ella. Die zunehmende Kommerzialisierung der Szene betrachtet sie kritisch. Dass Maler*innen Geld verdienen wollen, sei verständlich. „Aber wo hört man dann auf? Bei Workshops? Bei Graffititouren? Bei Auftragsarbeiten?“ Dadurch werde die Subkultur norm- und regelkonformer.
Das zeigt sich auch in Moabit, wo sich die Flinta*-Crew zu Beginn des abendlichen Streifzugs trifft. In der „Schleife“, einer Unterführung nahe dem S-Bahnhof Beusselstraße, stehen viele Lkws, die bei Tagesanbruch in den Großmarkt fahren. Die Lkw-Planen nutzt PMS als Leinwände: „Free all Antifas“ oder „Smash patriarchy“ steht darauf. Dazwischen steht ein perfekt bemalter LKW: „Der nervt mich so“, sagt Ella. Es handelt sich um Künstler*innen, die Lastwagenfahrern anbieten, die illegalen Graffiti auf ihren Wagen mit „schönen“ zu übermalen. „Es ist scheiße, wenn illegales Graffito übermalt und damit Geld verdient wird, während wir eingehen, dafür bestraft zu werden“, sagt sie.
Besonders ärgert die Flinta*, wenn Graffiti in Form von Wandgemälden von Auftraggebern wie Zalando Adidas oder der Deutsche Wohnen für Werbung benutzt wird. „Im Stadtbild bunte Wände durch Werbung, die zum Kaufen verleiten soll = okay und legal / Im Stadtbild bunte Wände durch Graffito, welches zeigt, wer sich hier auch rumtreibt = not okay und illegal“, schreiben sie dazu auf Instagram. Gleichzeitig liegt im Verbotenen ein Teil des Reizes: „Das Adrenalin lässt einen alles ausblenden. Währenddessen hat man kein Gefühl für Zeit und die Umgebung“, sagt Leo. „Aber manchmal gucke ich mich um und dann bekomme ich schon ein bisschen Schiss.“
Davon ist an diesem Abend nichts zu spüren. Im Handumdrehen öffnen die Flinta* routiniert eine Tür nach der anderen, schleichen sich durch Hausflure und probieren sich an Dachluken. Schließlich kommen sie bei einem Haus an, an dessen Fassade sie vor einiger Zeit ein Graffito gemalt haben, das inzwischen jedoch entfernt wurde. „Das ist immer sehr traurig“, sagt Ella. „Wir geben uns schon sehr viel Mühe.“
Leo, PMS
Am Wohnhaus angekommen deutet eine aufgebrochene Schlüsselbox neben dem Eingang darauf hin, dass PMS nicht die Einzigen sind, die der Gentrifizierung etwas entgegensetzen wollen. „Wahrscheinlich Airbnb“, flüstert Leo, während sie sich den Weg aufs Dach bahnt. Oben angekommen bewegt sie sich tastend in Richtung Kante, immer wachsam, um nicht von einem Balkon aus entdeckt zu werden. „Es ist lustig“, flüstert sie. „Die Menschen in den oberen Etagen glauben immer, sie wären unbeobachtet. Doch wir sehen sie von den Dächern.“
Und so nimmt sich die Crew von unten die Stadt und behält sie von oben im Blick.
*Namen von der Redaktion
geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen