Kritische Männlichkeit in der Schule: Wann ist ein Mann ein Mann?
Zwölf pubertierende Jungen sollen sich in einem Schulworkshop kritisch mit Männlichkeit beschäftigen. Klappt das, wenn sie Zärtlichkeit kaum kennen?
Ihre Sätze hallen nach: „Wenn du als Mann der Frau Geborgenheit geben möchtest, dann musst du emotional zäh sein“, „Dem Mann verzeiht man nicht, wenn der sich wie eine Bitch verhält“, „Du hast ein Hormon in dir, was dir ermöglicht, ständig selbstbewusst zu sein, und das ist Testosteron.“ Wie sie das Video fanden, fragt Dario in die Runde. „Der Mann mit Glatze hat recht“, sagt Keno*. Sein Kumpel Mehmet stimmt zu. „Er hat viele gute Sachen gesagt, dass zum Beispiel Männer heutzutage zu wenig Testosteron haben.“
Das fängt ja gut an. Zwölf Jungen, 15 und 16 Jahre alt, aus der zehnten Klasse einer Oberschule im Berliner Bezirk Lichtenberg sitzen an diesem Donnerstagmorgen Mitte November in einem Stuhlkreis. Während sich die Mädchen aus ihrer Klasse für die Wandertage einen Selbstverteidigungskurs gewünscht haben, sollen die Jungen zwei Tage lang über Männlichkeit reden.
Das Bild vom männlichen Ernährer
Was macht einen Mann aus? Welche Probleme entstehen, wenn sie versuchen, dem klassischen Männlichkeitsbild zu entsprechen? Und was ist eigentlich wichtig in Freundschaften, in Beziehungen, in der Familie? Wie relevant diese Fragen sind, zeigt sich täglich, ob es um sexistische Sprüche, queerfeindliche Beleidigungen oder häusliche Gewalt geht. Die Idee hegemonialer Männlichkeit wertet Frauen und marginalisierte Menschen ab und führt zu Gewalt. Sie gehört außerdem zum Repertoire rechtsextremer Ideologie. Das zeigte sich zuletzt bei den Wahlergebnissen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg.
Junge Männer von 18 bis 24 Jahren wählten überdurchschnittlich häufig die AfD. Soziolog*innen wie Klaus Hurrelmann erklären den „Modern Gender-Gap“ unter anderem mit Geschlechterrollen. Während junge Frauen sich eher für Klima und Feminismus interessieren, sorgen sich Männer mehr um ihre wirtschaftliche Situation – schließlich müssen sie ihre Rolle erfüllen und einmal eine Familie ernähren.
Unterdrückerische Männlichkeit als Gefahr – ist das nicht ein bisschen zu abstrakt für pubertierende Jungen, die im Spannungsfeld von Kindheit und Erwachsenwerden schon genug Chaos im Kopf haben? Nicolas Bruggaier und Dario Michel wollen es trotzdem probieren.
Ihre eigene Pubertät inklusive Identitätsfindung ist noch gar nicht so lange her. Michel ist 21 Jahre alt, studiert Sport und Geschichte auf Lehramt, Bruggaier ist 20 und ebenfalls angehender Lehrer für Deutsch und Ethik. Über den freien Träger „Beteiligungsfüchse“ gehen sie mit dem kritischen Männlichkeitsworkshop an Schulen, Dario macht das bereits seit eineinhalb Jahren, für Nicolas ist es das erste Mal.
Echte Männer und „echte Männer“
Um sich etwas näher an die Lebensrealität der Jugendlichen zu bewegen, starten Nicolas und Dario mit den TikTok-Videos und der Frage: Was sind eigentlich „echte Männer“? Die Schüler sammeln Eigenschaften, wie die Männlichkeits-Influencer sie verkörpern. Tapfer, besser als andere, erfolgreich, hart arbeitend, höflich, stark, selbstbewusst, Bart und trainiert, attraktiv, keine Emotionen, erfolgreich bei Frauen. „Da geht ihr ja schon mal davon aus, dass man auf Frauen stehen muss“, sagt Dario und schreibt den Begriff „hetero“ in die Liste.
Die Schüler wissen, wie ein Mann zu sein hat, so viel wird klar. Im nächsten Schritt wollen Dario und Nicolas aufzeigen, wie diese Erwartungen mit der Realität clashen – wie unterschiedlich also echte Männer ohne Anführungszeichen sein können. Auf ein gelbes Stück Papier schreiben die Schüler Eigenschaften einer männlichen Bezugsperson auf, die sie schätzen. Das kann der Vater sein, ein Bruder, Cousin, Freund oder Trainer. Auf den Zetteln steht: klug, sportlich, höflich, offenes Ohr, nett, fürsorglich, guter Style, inspirierend, hilfsbereit.
Bis hierhin gehen alle mit. Offensichtlich unterscheiden sich die „echten Männer“ von echten Männern. Nur – wo liegt das Problem, den gesellschaftlichen Erwartungen entsprechen zu wollen? „Es ist doch gut, wenn Männer stark sind und trainieren“, sagt Mehmet. Und Kilian sagt: „Das wollen halt auch die Frauen so.“
Kampfsport gegen Gefühlsexplosionen
Für diesen Moment hat Nicolas eine große Cola-Flasche mitgebracht. Er schüttelt sie heftig und hält sie dann einem Schüler vor die Nase. „Was passiert, wenn ich sie jetzt aufmache?“ Großes Gelächter, niemand will eine Cola-Dusche. „Hey, Jungs!“, ruft Nicolas, um wieder die Aufmerksamkeit zu bekommen.
Er will den Gedanken hinter dem Witz erklären: So wie sich in der Cola durch das Schütteln eine explosive Kraft sammelt, so stauen sich negative Gefühle an, wenn man sie verdrängt – bis sie sich als Aggression ihren Weg bahnen. „Damit könnt ihr euch selbst schaden, aber natürlich auch anderen“, sagt Dario.
Er und Nicolas erwähnen die hohe Suizidrate bei Männern, die im Kontrast steht zu dem geringeren Anteil von Männern in Psychotherapie. Und sie erwähnen Partnerschaftsgewalt und Femizide. „In der Kleinstadt, wo ich herkomme, wurden in einem Jahr fünf Frauen von ihren Partnern oder Ex-Partnern ermordet“, sagt Nicolas.
Wie also umgehen mit Traurigkeit, Einsamkeit, Angst, den Gefühlen also, die Männer nicht zeigen dürfen, um nicht als schwach zu gelten? Die eine Hälfte der Schüler sagt: Mit Freunden reden, sich Hilfe holen. Es sind die Jungen, denen die Kindheit noch ins Gesicht geschrieben steht, die als ihr Hobby mehrheitlich Zocken angeben. Die andere Hälfte, die coolen Jungen, die pumpen gehen, Caps tragen oder sich die Kapuze ihres Hoodies bis knapp über die Augenbrauen ziehen, sagt: Kampfsport.
Allein mit der Wut
Mehmet gehört zu der Kampfsport-Fraktion. Zärtlichkeit unter Freunden? Nur beim Boxen: „Wir umarmen uns immer nach dem Sparring, das reicht“, sagt er und lacht. Natürlich, mit seiner Freundin rede er schon über Gefühle, aber manches müsste man eben mit sich selbst ausmachen.
Welche Probleme das sind, die er mit sich selbst ausmachen muss, wird kurz deutlich, als Nicolas und Dario über Diskriminierung reden. Mehmet erzählt, wie ihn einmal in der U-Bahn eine ältere Frau anging: „Die hat mich so durch die Tür geschoben, ich frag sie, was das soll, und sie sagt einfach: ‚Geh zurück in dein Land.‘“
Keno erzählt von einer rassistischen Lehrerin. „Ich habe gefastet und zu Freunden gesagt, dass ich Hunger habe. Da meinte die Lehrerin, ‚Dann iss doch was!‘ Ich meinte, dass ich faste, da meinte sie: ‚Dann geh doch zurück in dein Land, dann kannst du fasten.‘“ Eine Gesprächsrunde mit zwölf Schülern reicht aus, um deutlich werden zu lassen, welche Ausgrenzung und Abwertung migrantisierte Jugendliche erleben. Und mit welcher Wut es sie zurücklässt.
Umso mehr überrascht Mehmet mit seiner Schauspieleinlage. Für eine praktische Übung tut Nicolas so, als sei er todtraurig: Liebeskummer. Mehmet erklärt sich bereit, den zweiten Part zu übernehmen und Nicolas’ Freund zu spielen, der ihn trösten will. Er setzt sich neben Nicolas, legt ihm die Hand auf den Rücken, beugt sich zu ihm runter, fragt: „Was ist denn los?“ Nicolas erzählt von einer fiktiven Freundin, die ihn hat abblitzen lassen. „Du musst ihr zeigen, dass du ohne sie kannst, dann kommt sie wieder zurück. Jetzt ist gleich Boxen, komm mit, erst mal ablenken“, sagt Mehmet. Nähe herstellen – Check. Zuhören – Check. Ablenkung vorschlagen – Check. Nur Mehmets Idee, die Freundin eifersüchtig zu machen, entspricht noch nicht ganz den Workshop-Zielen.
Mädchen, die Seeungeheuer
Wie stellen sich pubertierende Jungen eine ideale Liebesbeziehung vor? Die wenigsten in der Runde haben eine Freundin, niemand erzählt von einem festen Freund. Aber die vermeintlichen Regeln kennen trotzdem alle. Bei der Übung „Beziehungsschiff“ malen die Schüler auf ein Plakat ein Schiff und kleben dann Aussagen über eine Liebesbeziehung auf das Bild.
„Dein/e Freund/in hat etwas ausgeliehen und gibt es nicht zurück“, steht zum Beispiel auf einem Zettel. „Das juckt nicht“, sagt Andrij und klebt den Zettel in den Rumpf des Schiffes. „Dein/e Freund/in hat viele Freunde des anderen Geschlechtes.“ Dieser Zettel landet beim Seeungeheuer. „Das ist gefährlich“, sagt Andrij. Und das sagen auch alle anderen.
Dass Mädchen und Jungen einfach befreundet sind, dass Mädchen nicht sofort fremdgehen, wenn sie die Aufmerksamkeit eines anderen Mannes bekommen – diese Überlegungen scheinen ihnen fremd zu sein. Sowieso tauchen immer wieder frauenfeindliche Bilder auf. Als es zum Beispiel um Beleidigungen geht. „Fotze“, „Hure“, „Fick deine Mutter“, „Entjungfere deine Tochter“ – so richtig scheint keiner einzusehen, warum diese Ausdrücke Frauen abwerten. Das sei eben schwarzer Humor, sagt Lars. „Wenn ich zu Andrij sage, ich schieb dich ab, findet er das auch witzig.“
Zwei Tage bewirken keine Wunder, kommen nicht an gegen 16 Jahre gesellschaftlichen Einflusses. Im besten Fall geben sie einen Denkanstoß mit. „Das mit dem Schauspielen hat mich überrascht“, sagt Mehmet am Ende. „Weil man sollte wirklich nicht schlecht reden, wenn es jemandem schlecht geht, sondern vorsichtiger sein.“
*Die Namen aller Schüler wurden geändert.
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