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Grönland auf Schatzsuche

Mit dem Klimawandel wird es leichter, arktische Bodenschätze auszubeuten. Viele Grön­län­de­r*in­nen träumen davon, damit die Unabhängigkeit von Dänemark zu finanzieren. Doch ganz so einfach ist es nicht

Aus Nuuk Niklas Franzen (Text und Fotos)

Qupanuk Olsen blickt über die Schulter, macht einen Schritt nach links. Die Kulisse hinter ihr gleicht einem Ölgemälde: bunte Holzhäuschen, wolkenverhangene Gebirgszüge, ein einsamer Eisberg in der Bucht. Dann streckt Olsen ihren Arm schräg nach vorne, schaut in die Kamera ihres Handys. Sie drückt auf Record. „Grönland ist riiiesig und wir haben viele Mineralien hier. Gold, Silber, Rubin, Diamanten, Zink, Titanium.“

Schnitt, sie lässt ihr Smartphone sinken. Olsen ist 39 Jahre alt, trägt eine modische Regenjacke, hat die glatten schwarzen Haare zu einem Zopf gebunden. Sie steht auf einer Anhöhe in Grönlands Hauptstadt Nuuk. Eine eisige Brise pfeift, ihre Federohrringe tanzen im Wind. Sie drückt erneut auf Play. „Aufgrund des Klimawandels schrumpft der Eisschild. Immer mehr Land wird freigesetzt, sodass es in Zukunft viel mehr Mineralien geben könnte.“

Olsens Hand schwingt durch die Luft, ihre Betonung wirkt leicht theatralisch. Es ist die Gestik und Intonation einer Influencerin – und genau das ist Olsen auch. Mit ihren kurzen Clips über das Leben in Grönland hat sie sich einen Namen gemacht. Über eineinhalb Millionen Menschen folgen ihr, das 30-Fache der Bevölkerung Grönlands. Damit ist sie ohne Zweifel die bekannteste Bewohnerin des Landes. Doch Olsen ist nicht nur ein Internetpromi. Sie ist auch die einzige Bergbauingenieurin des Landes.

Grönlands Schätze liegen eigentlich vor dem Festland. 98 Prozent der Exporteinnahmen stammen aus der Fischerei. Zurzeit sind nur zwei Minen in Betrieb, beide gerade so rentabel. Viel zu wenig, wenn es nach Olsen geht. „Die Bergbauindustrie könnte unser Weg in die Unabhängigkeit sein.“ Das sehen heute viele Grön­län­de­r*in­nen so. Nur, ist das realistisch? Und wenn ja, zu welchem Preis?

Grönland ist ein Land der Extreme. Die größte Insel der Welt ist sechsmal so groß wie Deutschland. Das Polareis bedeckt 81 Prozent und misst drei Kilometer an seiner dicksten Stelle. In den eisfreien Gebieten leben rund 56.000 Menschen, die Besiedlung gleicht einer Perlenkette entlang der Küste. Trotz der rauen Natur übt Grönland eine ungebrochene Faszination aus, allerlei Geschichten und Mythen ranken sich um Wikinger, Walfänger und Abenteurer.

1721 legte ein Boot im Südwesten der Artiksinsel an. An Bord waren der dänisch-norwegische Missionar Hans Egede, ein Dutzend amnestierter Häftlinge, einige Soldaten sowie 11 Pferde. Auf dem kargen Land, an der Spitze mehrerer Fjorde, gründete Egede eine Siedlung: Godthåb, Gute Hoffnung. Es war der Beginn der Kolonisierung durch Dänemark. Für die dort lebende indigene Bevölkerung, die Inuit, markierte das einen tiefen Einschnitt. Sie mussten sich den dänischen Ko­lo­ni­sa­to­r*in­nen unterordnen, den christlichen Glauben annehmen, ihre traditionellen Riten wurden verboten. Einige Inuit wurden sogar nach Europa verschleppt und auf Jahrmärkten zur Schau gestellt.

Grönland bleibt bis heute, trotz weitgehender Selbstverwaltung, Teil Dänemarks. Die Siedlung Godthåb heißt heute Nuuk und ist ein modernes Städtchen mit einer Universität, Supermärkten, Bars und einem spektakulären wellenförmigen Kulturzentrum. Nach dem Videodreh lässt sich Olsen auf den Stuhl eines Cafés fallen, das mit seinen skandinavischen Möbeln und jungen Menschen hinter Laptops ebenso gut in Kopenhagen oder Berlin stehen könnte. Sie bestellt ein Schinken­croissant und beginnt, ihre Geschichte zu erzählen.

„Grönland gehört nicht zu den billigsten Orten, um Bergbau zu betreiben“

Naaja Nathanielsen, Rohstoffministerin für die Linkspartei

Olsen wuchs im Süden Grönlands auf – in einer Region, in der das Klima etwas milder ist und im Sommer sogar Schafe weiden. Sie erinnert sich noch gut daran, wie „in der Nähe“ ihres Heimatortes, was in grönländischen Dimensionen etwa 150 Kilometer bedeutet, eine Mine eröffnete. Dort machte sie ein Praktikum, studierte in Dänemark und Australien, bevor sie schließlich nach Grönland zurückkehrte. Heute lebt Olsen, die sich stolz als Inuit bezeichnet, mit ihrer Familie in Nuuk. Sie dreht Videos, leitet ein Medienunternehmen und arbeitet für eine australische Minenfirma.

Windkraftanlagen, Elektroautos und andere Technologien der Energiewende benötigen viele Mineralien für ihre Herstellung. Grönland ist reich an Ressourcen wie Lithium, Nickel und Kobalt, aber auch an sogenannten seltenen Erden. China beherrscht bislang einen Marktanteil von 80 Prozent und kontrolliert praktisch die ganze Lieferkette dieser strategisch wichtigsten Rohstoffe. Der Wettlauf um Ressourcen rückt Grönland geopolitisch zunehmend ins Zentrum.

Im Jahr 2020 eröffneten die USA ein Konsulat in Nuuk. Ein Jahr zuvor hatte der damalige Präsident Donald Trump ernsthaft vorgeschlagen, Grönland zu kaufen – was Dänemark ablehnte. Als die EU im Mai dieses Jahres ebenfalls ein Büro in Nuuk eröffnete, betonte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Grönlands zentrale Rolle für Europas Grüne Wende. Auch China verfolgt mit einer „Arktischen Seidenstraße“ strategische Interessen in der Region. Steht ein arktischer Goldrausch bevor?

„Wer denkt, es sei einfach, hier zu arbeiten, der irrt sich“, sagt Taatsi Olsen, während er durch eine Lagerhalle am Stadtrand von Nuuk marschiert. Eingeklappte Zelte, Generatoren und Küchenutensilien stapeln sich auf Regalen. Olsen – 32 Jahre alt, markantes Gesicht – arbeitet für ein Unternehmen, das Minenunternehmen bei Erkundungsprojekten unterstützt. „Wir machen Dinge möglich in Grönland“, lautet der Leitspruch der Firma. Konkret bedeutet das: Sie chartern Boote, errichten Camps und stellen Personal bereit. Alle Kli­en­t*in­nen kommen aus dem Ausland, meist sind es große Bergbaukonzerne aus Kanada oder der EU.

Olsen geht zu einem Metallschrank, schließt die Tür auf und nimmt ein Gewehr heraus. ­„30-06-Kaliber. Wenn sich ein Eisbär nähert, geben wir zwei Warnschüsse ab“, erklärt Olsen, der auch als Schießlehrer ausgebildet ist. „Falls er sich weiter nähert, müssen wir ihn erlegen.“ Nicht nur tierische Räuber stellen in der arktischen Einöde Herausforderungen dar. Aufgrund der klimatischen Bedingungen sind Erkundungsprojekte nur in den Sommermonaten möglich, wobei die Temperaturen selbst dann unter den Gefrierpunkt fallen können. Auch die Entfernungen machen Bergbauprojekte zu einem logistischen Kraftakt. Stolze 2.670 Kilometer sind es zwischen der Nord- und Südspitze Grönlands. Straßen zwischen den Siedlungen gibt es nicht, von einer Eisenbahnverbindung ganz zu schweigen. Erst gestern, erzählt Olsen, sei er von einem Projekt im Nordwesten des Landes zurückgekehrt, das nur mit dem Hubschrauber zu erreichen ist.

Geologische Studien, Probebohrungen und Genehmigungsmarathons – all das kann mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Die Aussichten, dass tatsächlich eine Mine in Betrieb geht, sind gering. „Weniger als ein Prozent“, schätzt Olsen die Erfolgsquote. Um das zu ändern, setzt er auch auf die Unterstützung der Politik.

Naaja Nathanielsen steht in einem lichtdurchfluteten Büro und hält einen rötlich schimmernden Stein in der Hand. Es ist ein Rubin, und Nathanielsen – 48 Jahre, blondgefärbte Haare – ist Rohstoffministerin. Naalakkersuisut heißt Grönlands Regierung, sie sitzt in einem roten Holzgebäude im Herzen Nuuks. Dass in Grönland vieles ein bisschen anders läuft, merkt man auch hier. Es gibt keine Sicherheitskontrollen, man spricht sich mit dem Vornamen an, die Ministerin trägt Turnschuhe. Nathanielsen geht zu einer Vitrine und zeigt auf ein Glas, das bis zum Rand mit einem weißen Pulver gefüllt ist. „Anorthosit aus einer unserer aktiven Minen.“ Der Rohstoff ist eine wichtige Ressource für die Herstellung von Glasfaser.

„Grönland gehört nicht zu den billigsten Orten, um Bergbau zu betreiben“, sagt Nathanielsen. Dennoch gebe es viele Vorteile: eine stabile Demokratie, kaum Korruption, gute Beziehungen zu den Nachbarländern. Nathanielsen ist Mitglied der Inuit Ataqatigiit. Die linke Partei gewann 2021 die Wahl und stellt seitdem den Ministerpräsidenten. Sie sieht sich als Vorkämpferin der Inuit, die fast 90 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Und die Partei strebt die völlige Unabhängigkeit von Dänemark an.

Seit dem Ende des Kolonialstatus im Jahr 1953 haben sich die Grön­län­de­r*in­nen Schritt für Schritt mehr Selbstständigkeit erkämpft. In Referenden stimmten sie für einen Autonomiestatus, den Austritt aus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und für eine stärkere Kontrolle über ihre natürlichen Ressourcen. Dennoch entscheiden bei vielen wichtigen Fragen weiterhin dänische Po­li­ti­ke­r*in­nen – oftmals ohne je einen Fuß in das Land gesetzt zu haben.

Die Beziehung ist komplex: Einerseits schimpfen viele Grön­län­de­r*in­nen über die Qallunaat, die Dänen. Gerade die jüngere Generation hinterfragt immer selbstbewusster die Kolonialgeschichte und den gerne von Dänemark propagierten Mythos, sie seien „gute Kolonisatoren“ gewesen. Andererseits sind viele Grön­län­de­r*in­nen eng mit der dänischen Kultur verbunden, sprechen Dänisch als Zweitsprache, leben zeitweise oder dauerhaft dort.

Darüber hinaus bleibt Grönland wirtschaftlich stark von der ehemaligen Kolonialmacht abhängig. Rund die Hälfte des grönländischen Staatshaushalts besteht aus Subventionen aus Dänemark, ergänzt durch Finanzhilfen aus der EU. Dies bietet zwar Stabilität und Planungssicherheit, führt jedoch gleichzeitig zu großer Abhängigkeit. In der Bevölkerung wächst der Wunsch nach Unabhängigkeit. Viele träumen davon, schrittweise die dänischen Subventionen durch Einnahmen aus dem Bergbau zu ersetzen. Doch ganz so einfach ist es nicht.

Der Aufbau einer Mine ist kostenintensiv, es dauert viele Jahre, bis sie in Betrieb geht und Einnahmen generiert. Hohe Kosten, hohes Risiko, keine direkten Gewinne – das schreckt viele größere In­ves­to­r*in­nen ab. Viele kleinere Unternehmen mit geologischem Fachwissen seien im Land, sagt die Ministerin Nathanielsen. Nun sei es aber wichtig, auch große Unternehmen anzuziehen. Firmen, die die gesamte Wertschöpfungskette abdecken und Infrastrukturprojekte wie Häfen finanzieren. Ein weiteres Problem für die Bergbauindustrie: Sie ist stark von internationalen Rohstoffpreisen abhängig. Viele Staaten setzen auf Protektionismus und kontrollieren die Preise, nicht nur China.

Um größere Bergbauprojekte in Grönland zu realisieren, wäre zudem Zuwanderung aus dem Ausland erforderlich. Die Arbeitslosenquote im Land ist gering, und es gibt nur wenige ausgebildete Fachkräfte vor Ort. Hunderte, wenn nicht Tausende ausländischer Bergleute könnten benötigt werden. Wäre Grönland darauf vorbereitet? Nathanielsen meint, das Land sei daran gewöhnt, ausländische Arbeitskräfte einzufliegen. Dennoch befürchten viele, dass im Wettbewerb um internationale Investitionen Arbeitsrechte, auch die der grönländischen Beschäftigten, unter die Räder geraten könnten.

„Wenn sich ein Eisbär nähert, geben wir zwei Warnschüsse ab. Falls er sich weiter nähert, müssen wir ihn erlegen“

Taatsi Olsen, 32, hilft Minenunternehmen bei Erkundungsprojekten

Der Inuit Circumpolar Council, die multinationale Vertretung der Inuit, warnt zudem vor einer zu großen Abhängigkeit von Großmächten, Umweltzerstörung, gar einem „grünen Kolonialismus“. Nathanielsen teilt diese Bedenken nicht: Das hiesige Rohstoffgesetz schaffe klare Regeln, die die Einhaltung von Umwelt- und Sozialstandards gewährleisten. Tatsächlich sind die Hürden für Bergbaufirmen in Grönland hoch. Man kann kein Land besitzen, sondern es lediglich von der Regierung pachten. Unternehmen müssen strenge Umweltauflagen einhalten. Zudem gibt es eine kritische Zivilgesellschaft, die dem Staat und der Wirtschaft auf die Finger schaut. So auch beim Kvanefjeld-Projekt.

Dieses sollte eigentlich zu einem der weltweit bedeutendsten Produzenten seltener Erden werden. Allerdings war auch Uranabbau geplant, was bei vielen Einheimischen für Kontroversen sorgte. Letztlich erwirkten Um­welt­schüt­ze­r*in­nen und die Regierung ein Abbauverbot, das Projekt in Südgrönland platzte. Zudem verbot die Regierung die Offshore-Ölförderung.

Die Influencerin und Bergbauingenieurin Qupanuk Olsen, die mehrere Jahre für die Regierung arbeitete, kann das nicht nachvollziehen. Die Projekte waren gut durchdacht und hätten keine Gefahr für die Umwelt oder die Menschen dargestellt. Durch übermäßige Regulierung schrecke die aktuelle Regierung potenzielle In­ves­to­r*in­nen ab. Das sehen auch viele Wirt­schafts­ver­tre­te­r*in­nen so. Grönland sei eine „Planwirtschaft“, die oftmals nicht mit den dynamischen Anforderungen der Bergbauindustrie vereinbar sei.

Tatsächlich sind die meisten großen Firmen in staatlichem Besitz, und die kritische Infrastruktur wird von der Regierung kontrolliert. Das ist teilweise den logistischen Herausforderungen des riesigen, aber dünn besiedelten Landes geschuldet. Laut Berechnungen von Olsen wären rund aktive 20 Minen erforderlich, um die dänischen Subventionen zu ersetzen. Unrealistisch derzeit. Doch ausgerechnet eine globale Krise könnte der Bergbauindustrie neuen Auftrieb geben.

Gaba Lynge steht auf dem Heck des knallgelben Schnellbootes. Er geht zur Reling und zeigt auf eine steile Felswand. „Noch vor einigen Jahren hat der Gletscher in den Fjord geragt.“ Nun läuft die Eiszunge nicht einmal mehr den halben Berg herunter. „Das ist eine Folge des Klimawandels, da gibt es keinen Zweifel.“ Lynge ist 21 Jahre alt, seine schwarze Mähne flattert im Wind. Er arbeitete für Nuuk Water Taxi. Das kleine Unternehmen organisiert Bootstouren, meist für Tou­ris­t*in­nen, in die Eisfjorde.

Heute ist das Boot nur halb voll, im beheizten Inneren gibt es Tee und Kekse. Die Gäste tragen Outdoorjacken und haben teure Kameras im Anschlag. Wer Nuuk auf dem Wasserweg hinter sich lässt, wird schon innerhalb weniger Minuten von den schier endlosen Weiten Grönlands verschluckt. Fjorde, Berge, Landzungen, kleine Inseln. Auf der Karte sieht die Region aus wie ein Puzzlespiel aus tausend Teilen.

Neben den Naturwundern will Lynge mit den Tou­ris­t*in­nen auch über die Auswirkungen der Klimakatastrophe sprechen. „Ich sage ihnen oft: Eure Kinder werden die Gletscher nicht mehr sehen.“ Trotz seines Alters ist Lynge das, was man als einen Experten bezeichnen kann. Er nahm a dem Programm „Students on Ice“ teil, das Studierenden die Möglichkeit bietet, die Auswirkungen des Klimawandels in der Arktis und Antarktis zu erforschen. Was sie dort beobachtet haben: Die Gletscher schmelzen noch schneller als gedacht. „Sie haben ein Ablaufdatum“, nennt Lynge das.

Die Arktis erwärmt sich viermal schneller als der Rest der Welt. Laut einer im Januar 2024 in dem Wissenschaftsmagazin Nature veröffentlichten Studie hat Grönland in den letzten Jahren 20 Prozent mehr Eis verloren als bisher angenommen. Als „Ground Zero des Klimawandels“ wird die Insel häufig bezeichnet. Die Erwärmung gefährdet das traditionelle Leben der Inuit. Fisch- und Jagdrouten verändern sich, das sensible Ökosystem droht aus den Fugen zu geraten. Die steigenden Temperaturen in Grönland haben außerdem weitreichende Folgen für den Rest der Welt. Das schmelzende Eis trägt maßgeblich zum Anstieg des Meeresspiegels bei und beeinflusst globale Wetterphänomene wie den Golfstrom. Seit einigen Jahren weiß man, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Eisverlust in der Arktis und Extremwetter in Europa gibt.

Auf der anderen Seite ermöglichen die steigenden Temperaturen eine zaghafte Landwirtschaft im Süden und eröffnen dem Tourismus neue Möglichkeiten, wie etwa durch arktische Segeltouren. Viele Grön­län­de­r*in­nen sind erfreut darüber, in den Sommermonaten keine Handschuhe mehr tragen zu müssen. Und die große Schmelze legt zuvor unzugängliche Gebiete frei. „Es gibt immer mehr Land zu entdecken“, sagt Lynge und grinst. „Vielleicht finden wir sogar den Weihnachtsmann.“ Die Bergbauindustrie behält die klimatischen Veränderungen genau im Auge: Immer größere Flächen, unter denen wertvolle Rohstoffe schlummern, sind nun eisfrei. Schiffe können potenzielle Abbaugebiete über längere Zeit ansteuern. Könnten die Klimaveränderungen Grönland in naher Zukunft zur Schatzinsel machen? Ex­per­t*in­nen sind skeptisch. Sie empfehlen stattdessen, auf stabilere Einkommensquellen wie den Tourismus zu setzen.

Das Wassertaxi saust mit 30 Knoten durch das türkis schimmernde Wasser, immer weiter in den Fjord hinein. Ein einsamer Buckelwal zieht vorbei. Man sieht Eisberge in den wildesten Formen, Farben, wie sich sie nur die Natur ausdenken kann. Einige sind fluffig wie Sahne, andere gläsern wie Porzellanfiguren. Der Kapitän des Bootes fischt einen Eisblock aus dem Wasser, hackt kleine Stücke ab, lässt sie in Plastikgläser plumpsen. Dann holt er den Whiskey, füllt auf, prost!

Wegen solcher Momente kommen Tou­ris­t*in­nen nach Grönland, bislang vor allem allein reisende Outdoorfreaks und Gäste von Kreuzfahrtschiffen. Das Land ist schwer zu erreichen, die Preise sind schwindelerregend, es gibt nur wenige Unterkünfte und kaum Erfahrung im Servicebereich. Um die Situation zu verbessern, wird in diesem Jahr in Nuuk der neue internationale Flughafen eröffnet. Überall in der Stadt wird gehämmert, gesägt, geschweißt. Grönland bereitet sich auf neue Zeiten vor.

Auch Qupanuk Olsen glaubt, dass in naher Zukunft der Tourismus eine Schlüsselrolle spielen wird. „Wir haben großes Potenzial und können viel von Island lernen.“ Die Insel ist – trotz geringer Bevölkerung – ein Magnet für Tou­ris­t*in­nen geworden. Kaltes Klima hat sich in Zeiten der Erd­er­wär­mung zu einem attraktiven Verkaufsargument entwickelt. Vom Trend zur „Coolcation“ könnte auch Grönland profitieren.

Olsen fährt mit ihrem Auto zum alten Kolonialhafen, hält vor einer roten Holzkirche. Es ist der Ort, wo Hans Egede einst das erste Haus seiner Besiedlung errichten ließ. Olsen wandert den kleinen Hügel hinauf, von dem ein bronzener Egede über der nördlichste Hauptstadt der Welt thront, so als ob gezeigt werden soll: Ich regiere immer noch. Für viele ist die Statue nicht mehr zeitgemäß, eine riesige Debatte entflammte. Mehrfach wurde das Denkmal beschmiert, es gab eine Petition, es abzureißen. „Ich will, dass er verschwindet“, sagt Olsen und schaut zum Lockenkopf Egede hoch, der eine Bibel in der Hand hält. „Er repräsentiert uns Inuit nicht.“ Stattdessen könnte man eine grönländische Persönlichkeit ehren, ein Kajak, irgendetwas anderes. „Viele Grönländer denken bis heute, wir können nicht ohne Dänemark überleben.“ Das will Olsen ändern. Irgendwann, sagt sie, wird ihr Land auf eigenen Füßen stehen. Vielleicht macht sie bald mal ein Video darüber.

Dieser Text wurde finanziell durch den Medienfonds „real21 – die Welt verstehen“ unterstützt

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