: Ertrinken in Lebensfreude
Der Affogato ist Getränk und Nachtisch zugleich. Nachdem er lange ein Nischendasein fristete, wurde er von Influencern entdeckt – und wird dennoch jeden Trend überdauern
Von Jochen Overbeck
Wer seinen Affogato im „Bostich“ nahe dem Berliner Ludwigkirchplatz trinkt, wird Zeuge einer beglückenden Zeremonie. Zunächst bringt die Bedienung einen gläsernen Kelch mit einer perfekt abgerundeten Kugel Vanilleeis an den Tisch. Die zweite Komponente, der Espresso, wird aus einem schmucken silbernen Kännchen vor dem Gast aufgegossen.
„Affogare“, das ist Italienisch und bedeutet ertrinken. Das Bostich ist eigentlich ein französisches Bistro. Erst im letzten Jahr entschied man sich, den kleinen Italiener auf die Karte zu nehmen. Ein kulinarischer Querschläger, der nicht nur gut in das Lokal passt, sondern auch in die Zeit.
In die Speisekarte fügt sich der Affogato so geschmeidig ein, weil er der Philosophie eines klassischen Bistros folgt. Er ist einfach, aber schmackhaft; im Prinzip besitzt er schlichtweg die Qualität der verwendeten Zutaten. „Ein gutes, selbstgemachtes Vanilleeis und ein doppelter Espresso. Mehr braucht man nicht“, sagt Assanee Meguid vom Bostich, der jedoch auf eines hinweist: Der Espresso müsse aus einer dunklen Arabica-Röstung gezogen werden, die fruchtigeren Trendvarianten kämen nicht gegen die Süße des Vanilleeises an.
In unsere Zeit passt der Affogato, weil er wie gemacht ist für die sozialen Netzwerke: Egal, ob der Espresso direkt aus der Siebträgermaschine kommt oder den Umweg durch ein Kännchen nimmt, die Produktionsdauer übersteigt nie die Aufmerksamkeitsspanne durchschnittlicher Tiktok- oder Instagram-User:innen. Dabei gibt es eine Vielzahl verschiedener Zubereitungsvarianten. Die wohl prominenteste stammt aus Florenz. In der Traditionseisdiele Vivoli wird das Eis in die Tasse gespachtelt, sodass in der Mitte eine Aussparung bleibt. Diese besitzt die Form eines Spielkarten-Karos und fängt den Kaffee auf. Der US-Fotograf und Filmemacher Sam Youkilis trank dort 2023 einen Affogato und schrieb danach an seine 600.000 Follower, einen besseren habe er noch nie gehabt. Die Folge: Das Vivoli wurde zu einem Influencer-Hotspot, über 5.000 Bewertungen und beinahe ebenso viele Fotos finden sich heute bei Google. 350 Portionen wandern hier pro Tag über den Tresen, heißt es. Im Bostich, so Meguid, sind es etwa 15.
Womöglich passt der Affogato auch deshalb so gut zur Gegenwart, weil er angenehm unverbindlich ist: Er dient als Getränk und Nachtisch gleichermaßen, beschließt den Abend, ohne so schwer im Magen zu liegen wie eine kapitale Süßspeise. Gleichzeitig strahlt er mehr Lebensfreude aus als ein nackter Kaffee. Und: Der Affogato funktioniert nicht nur im gepflegten Ambiente eines Abendlokals. Auch auf den Kunststoffstühlen einer Eisdiele, an der der Verkehr dreispurig vorbeirauscht, schmeckt er ganz hervorragend. Nur sollte man zur Sicherheit schauen, ob die Eisdiele über eine ordentliche Kaffeemaschine verfügt.
Wärme trifft auf Kälte. Süße trifft auf Bitterkeit. Flüssiges trifft Festes, das schließlich ebenfalls flüssig wird. Ein schlüssiges Spiel der Kontraste und der Viskositäten, dessen Wurzeln im Dunkeln liegen und das im Übrigen auch im Winter Sinn ergibt; seinen Ruf der Sommerspeise hat der Affogato wohl, weil viele Eisdielen im Winter geschlossen haben. Das „Italien der 1950er Jahre“ wird allgemein als Ursprung genannt. Dokumentiert wurde er selten, erst ab den nuller Jahren findet er seinen Weg in italienische Kochbücher.
Das Internet kennt mittlerweile die unterschiedlichsten Varianten, etwa den Magnum-Affogato, bei dem ein Miniatur-Stileis gleicher Marke als Umrührinstrument und Geschmacksgeber zugleich dient, oder den von der Trendschokolade abgeleiteten und latent protzigen Dubai Affogato mit, genau, einem ordentlichen Schlag Pistazienmus und einem dekorativen Nussrand, sowie den White Russian Affogato, bei dem der Kaffee durch Kaffeelikör und einen doppelten Wodka ersetzt wird.
Als typischer Gastro-Trend wird der Affogato auch gern an die Jahreszeiten angepasst: Im Herbst kommt er in der Pumpkin-Spice-Variante, im Winter trägt er ein Spekulatius-Mützchen. Nun gehört eine geringe Halbwertszeit zum Wesenszug von Trends, derlei Abwandlungen werden in spätestens zwei Jahren niemanden mehr interessieren. Der Affogato wird das aushalten. Einfach, aber schmackhaft: Das funktioniert immer, im Bostich, im Vivoli und anderswo.
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