zwischen den rillen
: Übersprudeln für den Vibe

Lady Gaga: „Harlequin“ (Island/Universal)

Niemand mag zwischen allen Stühlen sitzen. Angeblich. Denn für Stefani Joanne Angelina Germanotta, beruflich als Lady Gaga unterwegs, scheint diese Maxime nicht zu gelten. Sie macht sehr gern Musik, aber die Schauspielerei liegt ihr mindestens ebenso viel am Herzen. Deshalb hält sie sich künstlerisch flexibel – mal geht sie der einen, mal der anderen Leidenschaft nach. Zuweilen verwischt sie sogar in aller Selbstverständlichkeit die Grenzen zwischen beiden künstlerischen Feldern. Noch bevor ihr jüngster Blockbuster „Joker: Folie à Deux“ überhaupt ins Kino gekommen ist, hat die 38-jährige gebürtige New Yorkerin überraschend ein neues Album veröffentlicht. Es heißt „Harlequin“.

Vernarrt in eine Rolle

Allein sein Titel verrät, wer dieses Werk maßgeblich geprägt hat: Lady Gagas Filmfigur Harley Quinn. Sie gilt als verrückte, völlig unberechenbare Frau. Weil sich die Künstlerin selbst nach Ende der Dreharbeiten noch nicht von ihrer Rolle abwenden mochte, legte sie für ihre Albumproduktion vorab ein Kriterium fest: Die Musik sollte sich eng an diese Rollenfigur anlehnen. Mit ihrer Stimme wollte Lady Gaga die Songs interpretieren.

Was simpel klingt, muss nicht unbedingt einfach sein. Doch der US-Superstar hat eine wandelbare Stimme. Diese ermöglicht es ihr ohne große Anstrengung, hier und da ein bisschen mädchenhafter als sonst zu singen. So überführt sie den Gospelklassiker „When the Saints go Marching in“ gewollt lässig in eine opulente Version, die vor lauter Energie fast übersprudelt – alles für den Vibe. Das Ziel von Lady Gaga ist es nämlich, Nostalgie-Pop auf modern zu drillen.

Bei „I’ve got the World on my String“ filtert sie den Swing weitestgehend heraus und flechtet stattdessen eine Gitarre ein. Ihren Gesang schickt Lady Gaga aber auch bei dieser Nummer eher in Richtung Jazz. Offenbar hat sie diese Ambition nie verloren, seitdem sie mit Tony Bennett für die Alben „Cheek to Cheek“ (2014) und „Love for Sale“ (2021) Jazzstandards eingespielt hat. Nun hebt sie mit „Smile“, einst berühmt geworden in der Fassung von Judy Garland, umrahmt von verträumten Klavierklängen, in die Schwerelosigkeit ab.

Gerade dieses Lied macht deutlich, was eigentlich alle längst wissen: Lady Gaga hat ein Händchen für Balladen. Nur sind die langsamen Stücke wohl nicht unbedingt das, was sich jene Fans, die die Pop­iko­ne vor allem für Dancefloor-Kracher wie „Poker Face“ vergöttern, von ihr erhoffen. Immerhin können sie Lady Gagas kommendem Studioalbum entgegenfiebern, erscheinen soll es bereits im Februar 2025. Die Prognose lautet: Pop tritt vermehrt in den Vordergrund.

Falls die Neukomposition „Happy Mistake“ allerdings schon ein Vorbote dafür sein sollte, dürfte es um Gagas Rückkehr in die Welt der Dancefloor-Beats schlecht bestellt sein. Bei diesem Titel gibt nachweislich die akustische Gitarre den Ton an, während Lady Gaga grübelt: „How’d I get so addicted to the Love of the whole World?“ Mit diesem introspektiven Text wendet sich die Sängerin unverkennbar wieder sich selbst zu. Einen Bezug zu Harley Quinn hat dieser Titel nicht wirklich.

Das Ziel von Lady Gaga ist es, mit der Musik von „Harlequin“ Nostalgie-Pop auf modern zu drillen

Abgesehen davon fragt man sich, ob all die Klassiker, die zum Teil in abweichenden Fassungen bereits im Soundtrack zu hören sind, tatsächlich die Vielschichtigkeit der Comicfigur widerspiegeln können. Gewiss hat das bluesige „Gonna build a Mountain“ viel Drive, das nostalgische „Good Morning“ ist ein Gute-Laune-Booster. Aber wo bleibt das Chaotische, die Sprunghaftigkeit? Diese Facetten schreibt Lady Gaga ihrem fiktiven Charakter in Interviews zwar zu, nur findet man sie in der Musik praktisch gar nicht. Dagmar Leischow