Vergeblich die Gesellschaft aufrütteln

Vor 50 Jahren nahm sich der Historiker und Holocaust-Überlebende Joseph Wulf das Leben. Er hatte die Idee, aus dem Haus der Wannseekonferenz in Berlin einen Gedenk- und Geschichtsort zu machen

Kämpfte unermüdlich gegen die Windmühlen der scheinbar heilen deutschen Nachkriegswelt: Joseph Wulf (1912 bis 1974) Foto: ullstein bild

Von Rosa Budde

Er habe über das Dritte Reich 18 Bücher veröffentlicht, und „das hatte keine Wirkung,“ schrieb Joseph Wulf im August 1974 an seinen Sohn. Über Wulfs Schreibtisch in seiner Berliner Wohnung stand in hebräischer Schrift die Mahnung, der der Überlebende des KZ Auschwitz sein Leben gewidmet hatte: „Erinnere dich an die sechs Millionen!“ Er selbst konnte gar nicht anders, als sich an sie zu erinnern. Und er verzweifelte an der ungeheuerlichen Leichtigkeit beim Vergessen von NS-Unrecht nach 1945 in der deutschen Nachkriegsgesellschaft.

Joseph Wulf wurde 1912 in Chemnitz geboren und wuchs in Krakau auf. Sein Leben lang blickte er wehmütig auf die Krakauer Kindheit zurück und fühlte sich dem osteuropäischen Judentum stark verbunden. Nach dem deutschen Überfall auf Polen 1939 schloss er sich der Widerstandsbewegung jüdischer Jugendorganisationen in den Ghettos von Krakau und Bochnia an. 1943 wurde er enttarnt und in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Dort suchte er Kontakt zur kommunistischen Bewegung und organisierte sich in Untergrundstrukturen. Kurz vor Kriegsende konnte Wulf bei einem Todesmarsch fliehen. Er überlebte.

Wulfs Sohn David, der gemeinsam mit seiner Mutter den NS-Terror in einem Versteck auf dem Land überlebte, beschrieb später, wie sein Vater schon direkt nach dem Krieg voller Drang gewesen sei, über das Geschehene aufzuklären. Wulf blieb zunächst in Polen und wurde Mitarbeiter der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission. Er war dabei, als im September 1946 ein Teil der versteckten Dokumente des Ringelblum-Archivs geborgen wurde. Wulf nahm sich Emanuel Ringelblum, der in seinem Untergrundarchiv den Alltag und das Sterben der Juden im Warschauer Ghetto für die Nachwelt bewahrt hatte, ein Leben lang zum Vorbild.

Von 1947 an lebte Wulf für kurze Zeit in Paris und gründete dort mit anderen das Zentrum für die Geschichte des polnischen Judentums. Mitte der 1950er zog er nach Berlin. Er wollte die deutsche Nachkriegsgesellschaft aufrütteln und die „sechs Millionen“ in ihrem Gedächtnis verankern. Aus dieser Zeit stammen seine ersten Buchveröffentlichungen zum NS-Vernichtungssystem, denen im Laufe seines Lebens zahlreiche weitere folgen sollten. Sein Sohn David erinnerte sich später, wie sein Vater, ein heftiger Kettenraucher, unablässig an seinem Schreibtisch arbeitete und sich oft nur wenige Stunden Schlaf gönnte. In seinen Werken ließ der historiografische Autodidakt häufig Originalquellen von Tätern unkommentiert für sich sprechen. Er hatte bei seiner Arbeit stets auch zukünftige Generationen im Sinn und schrieb nicht nur für die Forschung, sondern auch für die breite Gesellschaft. Diese interessierte sich allerdings nicht sonderlich für seine Werke. Im Gegenteil, da in Wulfs Veröffentlichungen auch Namen vieler noch nicht bestrafter Täter genannt wurden, stieß er immer wieder auf Gegenwind. Trotz einer teils prekären finanziellen Lage schrieb Wulf unermüdlich gegen die stumpfsinnige, vom Unrecht nichts wissen wollende deutsche Normalität an. Er kämpfte gegen das – sich bis heute haltende – Narrativ von den angeblich passiven Juden, die sich „wie Schafe zur Schlachtbank“ führen ließen, und veröffentlichte Bücher zum jüdischen Widerstand.

Wulfs größtes Anliegen war es, in der Villa der sogenannten Wannsee-Konferenz ein Dokumentationszentrum zu errichten. Denn dort hatten am 20. Januar 1942 hochrangige Vertreter von SS, NSDAP und mehreren Reichsministerien die massenhafte Ermordung der europäischen Juden geplant. Die stattliche Villa wurde nach dem Krieg zunächst als Schullandheim genutzt. Nichts erinnerte daran, welches monströse Verbrechen nur zehn Jahre zuvor an diesem Ort geplant worden war.

Wulf erkannte früh die Bedeutung von konkreten Orten von Verbrechen für die Auseinandersetzung mit der Geschichte. Ihm schwebte ein internationales Forschungszentrum vor, in dem Dokumente zur Shoah aus aller Welt auf Mikrofilm gespeichert werden sollten. Sie waren in der prädigitalen Zeit des Kalten Krieges nur schwer zugänglich. Wulf selbst sprach etwa Polnisch, Jiddisch und Hebräisch und konnte in seiner Arbeit auf ein breites Spektrum an Quellen zugreifen. Das wollte er auch anderen His­to­ri­ke­r:in­nen und Privatpersonen ermöglichen und Übersetzungen der gesammelten Dokumente anfertigen.

Für die Umsetzung seines Projekts brauchte Wulf allerdings die Zustimmung des Berliner Senats. Dieser zeigte sich immer wieder scheinbar offen für Verhandlungen, wollte die Villa am Wannsee in Wahrheit aber nicht als Ort der Erinnerung hergeben. In einem jahrelangen Gesprächsprozess wurde Wulf immer weiter hingehalten, bis die Umsetzung des Forschungszentrums letztlich verschleppt wurde. Ein Schlag, von dem sich Wulf nie wieder ganz erholte.

Heute ist das Haus der Wannseekonferenz Gedenkort und Bildungsstätte, wenn auch vielleicht nicht ganz so auf Forschung fokussiert, wie Wulf es vorgeschwebt war. Die Bibliothek ist nach ihm benannt. Bei einer Tagung zu Ehren Wulfs vorige Woche konnten sich Forschende austauschen. Einigkeit bestand darin, dass die Holocaustforschung sicher an einem fortgeschritteneren Punkt wäre, wäre es Wulf bereits in den 1960ern gelungen, dort sein Dokumentationszentrum zu errichten. Deborah Hartmann, Leiterin der Gedenkstätte, weihte mit der Tagung ein neues Seminarhaus im Garten der Villa ein. Auch der Berliner Senat war – knapp sechzig Jahre nach den Verhandlungen mit Wulf – zumindest kurzzeitig durch Kultursenator Joe Chialo (CDU) vertreten.

Die Eröffnung der Gedenkstätte im Haus der Wannseekonferenz 1992 erlebte Wulf nicht mehr. Erschütterung über das Desinteresse, das ihm entgegenschlug, zeichnete ihn. Freunde sagten über Wulf, er sei trotz gesundheitlicher Schäden der Hölle von Auschwitz nicht als gebrochener Mann entronnen, aber die Ignoranz im Nachkriegsdeutschland habe ihn zum Verzweifeln gebracht. Am 10. Oktober 1974 nahm sich Joseph Wulf das Leben. In seinem letzten Brief an seinen Sohn David schrieb er: „Du kannst dich bei den Deutschen totdokumentieren, es kann in Bonn die demokratischste Regierung sein – und die Massenmörder gehen frei herum, haben ihr Häuschen und züchten Blumen.“