Autorin Katja Lewina über das Sterben: „Wir brauchen alle eine Deadline“
Die Autorin Katja Lewina hat ein heiteres Buch über das Sterben geschrieben. Es ist ein Plädoyer für eine radikale Akzeptanz der Endlichkeit.
Ein Montagmittag im August. Das Betty’n Caty ist die Art von Café in Berlin-Prenzlauer Berg, das bei Menschen wie Sahra Wagenknecht oder anderen Nostalgikern Schüttelfrost auslöst: Alles, was man bestellen kann, ist irgendwie aus Hafer, die Geschäftssprache ist Englisch, die Gäste sind international, die Preise eine Frechheit. Katja Lewina setzt sich nach drinnen, da habe man Ruhe. Wir wollen über ihr neues Buch sprechen, dem vierten, nach drei Büchern über Sex und Beziehungen. Das neue heißt „Was ist schon für immer – vom Leben mit der Endlichkeit“, es geht darin um Sterblichkeit und Verlust. Lewina hat das Buch ihrem Sohn Edgar gewidmet, der 2021 mit 7 Jahren gestorben ist. Sie selbst leidet an einer Herzerkrankung und lebt mit einem implantierten Defibrillator.
taz: Frau Lewina, furchtbar verbotene Einstiegsfrage in ein Interview, aber dennoch: Wie geht es Ihnen?
Katja Lewina: Ganz gut, danke. Ich bin allerdings ein bisschen flatterig gerade. Nervös, aufgeregt. Dabei müsste ich eigentlich abgebrühter sein, schließlich ist das ja nicht mein erstes Buch.
Die Autorin
Katja Lewina wurde 1984 in Moskau geboren. 2020 erschien ihr erstes Buch „Sie hat Bock“ über weibliches Begehren. In „Bock“ schrieb sie über die Sexualität heterosexueller Männer. In „Ex: 20 Jahre, 10 Männer und was alles so schief gehen kann“ sprach sie mit ehemaligen Partnern über ihre Beziehung. „Was ist schon für immer“ ist ihr viertes Buch.
Die Lesungen
Aus ihrem neuen Buch liest Katja Lewina unter anderem am 8. Oktober in Köln, am 14. Oktober in Berlin und am 3. November in Hamburg.
taz: Aber eventuell das, worüber man am schlechtesten sprechen kann. Fühlen Sie sich wohl mit dem Buch?
Lewina: Ja, total. Wobei ich mich schon frage, ob die Menschen ein Buch über den Tod gerne lesen werden, denn über den Tod sprechen, das machen die meisten ja nicht so gerne. Sie sprechen zwar auch nicht gerne über Sex – dafür lesen sie gerne darüber.
taz: In Ihrem ersten Buch „Sie hat Bock“ geht es um weibliches Begehren, im zweiten um Männlichkeit und im dritten um die Beziehungen Ihres Lebens. Ist es schwieriger über das Sterben zu schreiben oder über Sex?
Lewina: Schwer zu sagen. Ich hatte ja schon bei diesen Sex-Büchern das Gefühl, dass ich auf Tabus stoße und an Dingen rüttele, über die man besser schweigen sollte. Bei dem Buch über den Tod … Moment! Ich will das eigentlich gar nicht das „Buch über den Tod“ nennen! Ich will es lieber das „Buch über das Leben“ nennen!
taz: Ich habe ja auch „Sterben“ gesagt. Nicht „Tod“.
Lewina: Ja, Sie schon. Aber das fällt mir jetzt ständig entgegen: „Das ist diese Katja Lewina, die hat früher Bücher über Sex geschrieben und jetzt ein Buch über den Tod.“ Das klingt so düster, dabei will ich lieber auf die Haben-Seite gucken: Das haben wir, was können wir damit machen?
taz: Und wie schwer war es, darüber zu schreiben?
Lewina: Schon schwer. Denn der Tod ist ja noch ein viel größeres Tabu als Sexualität. Sex ist ein bisschen anrüchig, vielleicht sogar schmuddelig, aber jeder hat da eine Haltung oder eine Meinung zu. Beim Tod sind wir emotionaler betroffen, wir sind viel angreifbarer. Weil es an die Erkenntnis erinnert, dass wir alle eines Tages sterben werden, wenn es ganz schlecht läuft eigentlich jederzeit. Das macht es für den Leser und für die Leserin ein wenig hakelig, ein bisschen unangenehm, und für mich persönlich … Wissen Sie, der Verlust ein Kindes ist ja das Schlimmste, was einem passieren kann. Deshalb war auch das Schreiben darüber sehr schwer. Es gab Tage, da hab ich vielleicht zwei Sätze schreiben können … Trotzdem hatte es auch etwas Befreiendes.
taz: Können Sie sich daran erinnern, wann Ihnen zum ersten Mal bewusst war, dass Sie selbst sterben werden?
Lewina: Ich hatte lange Zeit eine Unsterblichkeitsfantasie. Natürlich war mir immer klar, dass ich irgendwann sterben muss. Aber ich hab mich unverletzlich gefühlt. Ich hab die bescheuertsten Sachen angestellt. Ich hab Drogen genommen, hatte unverantwortlichen Sex … Ich hatte niemals Grund zur Annahme, dass mein Körper irgendwas nicht schaffen würde oder dass ich irgendwas nicht überstehen würde. Ich hatte nie Angst um mein Leben. Im Gegenteil. Ich fühlte mich unverwundbar.
taz: Sie haben Religionswissenschaften studiert …
Lewina: … aber nur ein Jahr!
taz: Na ja, immerhin. Gibt es in den Religionen etwas, das für Sie eine Art von Trost darstellt?
Lewina: Nee, nichts dabei für mich. Weder Wiedergeburt noch eine Vorstellung von einem Jenseits, in dem ich alle, die ich geliebt habe, wiedersehen werde. Ich spür das einfach nicht. Das sind doch nur Geschichten, die sich jemand ausgedacht hat.
taz: Spüren Sie es nicht oder können Sie es intellektuell ausschließen?
Lewina: Ich kann es intellektuell ausschließen. Natürlich gibt es Dinge, die ich nicht verstehe, die ich nicht einordnen kann. Aber ich versuche ja nicht, diese Dinge einzuordnen und dann eine Geschichte zu kreieren, die dann einen Sinn ergibt. Denn das will man ja! Wir sind so hilflos in unserer Trauer, dass der Tod wenigstens einen Sinn ergeben muss. Religion ist im Grunde nur eine Therapie für Todesängste.
taz: Und sie bringt die besseren Geschichten hervor.
Lewina: Natürlich! Die Geschichten sind super!
taz: Ist der Tod die größte Demütigung?
Lewina: Ja. Manche sagen auch, es sei die letzte narzisstische Kränkung. Kann man so sehen. Oder aber man versteht die eigene Sterblichkeit als ein Geschenk. Ohne das Wissen darum, dass die eigene Zeit endlich ist, würden wir ja nichts geschissen kriegen. Wenn man wüsste, man wäre unendlich lang auf dieser Erde, hätte man überhaupt keinen Grund mehr, sich anzustrengen oder sich zu verwirklichen. Wir brauchen ja alle irgendwie eine Deadline.
taz: Ihr Sohn ist gestorben, da war er sieben Jahre alt. Sie selbst leben seit Jahren mit einem implantierten Defibrillator, weil Sie durch einen Gendefekt Gefahr laufen, am plötzlichen Herztod zu sterben. Ertappen Sie sich manchmal dabei, wie Sie denken: Womit hab ich das eigentlich alles verdient?
Lewina: Diese Frage habe ich mir tatsächlich sehr oft gestellt, aber man wird ja bekloppt, wenn man darüber lange nachdenkt. Man kommt da nicht weiter. Eigentlich hat man zwei Möglichkeiten. Nein, drei. Erste Möglichkeit: Hadern und wütend sein, dass einem so viel Unrecht geschieht. Zweite Möglichkeit: Man bastelt sich daraus eine gute Geschichte, eine, die Sinn ergibt. Oder, dritte Möglichkeit: Man nimmt es an und macht irgendwie weiter. Nutzt den Spielraum, der einem noch bleibt.
taz: Wann musste sich Ihr Defibrillator das letzte Mal einschalten?
Lewina: Vor zwei Jahren. Es ist, als würde dir ein Pferd mit voller Wucht in die Brust treten. Ich merke das auch kommen, mein Herz schlägt wie verrückt, dann kann ich meinen Puls nicht spüren, mir wird schwindelig. Dann macht es boooom in meiner Brust. Danach bin ich erst mal nicht mehr zu gebrauchen. Wenn einem 80 Joule durch den Körper gejagt werden, ist der ziemlich platt.
taz: Marcel Reich-Ranicki hat einmal gesagt, das Schlimmste am Tod sei für ihn, dass er dann nicht mehr mitbekäme, was am Montag im Spiegel stehen würde …
Lewina: … weil er es nicht ertrug, dass die Welt sich ohne ihn weiterdreht?
taz: Wahrscheinlich, ja.
Lewina: Das ist ja fast süß. Irgendwie so ein Kindergedanke.
taz: Gäbe es denn gar nichts, was Sie vermissen würden?
Lewina: Wenn ich nicht mehr bin, kann ich ja nichts mehr vermissen.
taz: Das ist jetzt die sehr rationale Antwort.
Lewina: Okay, passen Sie auf. Selbst wenn ich tot bin und nicht alles vorbei ist und ich als Geist herumschwirre oder mich in einem Paradies wiederfinde, hätte ich ja ein neues Leben. Da spielen die Dinge aus dem alten Leben keine Rolle mehr.
taz: Es ist ein Jahr her, dass Sie zum ersten Mal öffentlich über den Tod Ihres Sohnes und über Ihre Erkrankung gesprochen haben. Wie kam es zu dieser Entscheidung?
Lewina: Ich wollte, dass über dieses Thema – Verlust eines Kindes – gesprochen wird. Dass Eltern damit nicht alleine sind. Als mein Sohn gestorben ist, hat es mir sehr geholfen, mich mit anderen Eltern auszutauschen, die auch ein Kind verloren haben. Oder davon zu lesen. Ich habe solche Geschichten aufgesogen. Aber Menschen, denen so etwas passiert ist, gehen meist lieber nicht in die Öffentlichkeit. Die wollen keine Aufmerksamkeit. Und so ging es mir auch die erste Zeit. Ich brauchte eine Weile. Vor zwei Jahren hätte ich nicht so entspannt hier sitzen können. Was mir auch total wichtig war vor allen Dingen mit diesem Buch: zu zeigen, dass es weitergeht. Uns können die schlimmsten Dinge widerfahren, aber unser Leben muss deswegen nicht zu Ende sein. Wir alle brauchen Geschichten, die uns den Mut geben, weiterzumachen.
taz: Ihr Sohn bekam eines Abends furchtbare Bauchschmerzen, er erbrach sich mehrmals, Sie waren in der Notaufnahme, da schickte man Sie wieder nach Hause. In den Morgenstunden kollabierte er dann, Krankenwagen, Not-OP. Es half nichts. Wie schafft man es, seinen Frieden zu machen mit dem Tod des eigenen Kindes?
Lewina: Ich glaube nicht, dass das wirklich geht. Der Tod eines Kindes fühlt sich immer an wie die absolute Abartigkeit des Schicksals. Was aber dennoch hilft, ist radikale Akzeptanz. Ich kann etwas schrecklich finden und es gleichzeitig annehmen. Es hilft auch nichts, sich dagegen zu wehren, der Tod ist unverrückbar. Die Frage ist: Was mache ich mit dem Rest, der in meiner Hand liegt?
taz: Sie haben sich in Ihren früheren Büchern mit dem Begehren beschäftigt, jetzt mit dem Tod. In dem Film „Mondsüchtig“ von 1988 gibt es eine Szene, in der unterhalten sich ein alter Mann und eine alte Frau und die Frau will wissen, warum Männer niemals aufhören, Frauen zu begehren. Der Mann antwortet: „Weil sie Angst vor dem Tod haben.“ Ist Begehren eine Rebellion gegen den Tod?
Lewina: Begehren ist in jedem Fall sehr lebendig. Man kann sich außerdem sehr gut in Sex flüchten – vor allen möglichen bösen, dunklen Gedanken. Was diese Szene angeht: Es kann ja sein, dass Männer ein bisschen fragiler sind. Frauen können Schmerz oft besser wegstecken – den körperlichen, aber auch den seelischen. Sie können besser mit ihren Ängsten umgehen. Eventuell brauchen Männer dafür ein Ventil.
taz: Wie schwer war es für Sie, diesen wunderbar leichten, fast heiteren Ton zu finden, der sich durch Ihr Buch zieht?
Lewina: Ich glaube, der gehört einfach zu mir. Aber ich hab mich beim Schreiben oft gefragt, ob er nicht vielleicht zu leicht ist, dem Thema nicht angemessen. Ich wollte halt auch kein schweres, getragenes Buch über das Sterben schreiben. Es gibt so viele vorsichtige, tastende Bücher zu diesem Thema. So sollte meines nicht werden.
taz: Max Frisch will in seinem berühmten Fragebogen über den Tod wissen: „Was stört Sie an Begräbnissen?“
Lewina: Vielleicht die Strenge des Rituals und die wenige Varianz. Ich bin sicher, dass viele Angehörige diese Verabschiedung auch anders gestalten würden, aber die Zeit nach dem Tod eines Menschen ist nicht die Zeit für Kreativität. Du brauchst halt jemanden, der das übernimmt, und die meisten Bestattungsunternehmen sind da eher konservativ – ältere Herren in schwarzen Anzügen. Wir brauchen viel mehr junge Bestattungsunternehmen, die Varianten anbieten, die einem dabei helfen, dass es ein schönes Fest wird. Denn das ist doch das, was die Menschen wollen, ganz gleich, wie sehr sie trauern und hadern. Ein schönes Fest, eine würdige Verabschiedung.
taz: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass das Sterben und der Tod Sie Ehrlichkeit gelehrt hätten. Was meinen Sie damit?
Lewina: Also ehrlich war ich schon immer. Ich hab mich die meiste Zeit meines Lebens bemüht, nicht zu lügen. Und ich hab das in meinem Erwachsenenleben auch ganz gut hinbekommen: den Kindern keinen Mist erzählen, in der Beziehung keinen Mist erzählen. Bei den eigenen Eltern wird es schon schwierig. Denen konnte ich lange nicht die Meinung sagen. Oder auch im beruflichen Kontext, wo man es allen recht machen will, obwohl man dazu entweder keine Lust oder keine Kapazitäten hat. Daran arbeite ich gerade – da ehrlich zu sein und Konfrontationen nicht aus dem Weg zu gehen.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
taz: Eigentlich ist Ihr Buch über das Sterben eine große Liebeserklärung an das Leben. Kann man über den Tod nur schreiben, wenn man das Leben feiert?
Lewina: Man kann es natürlich auch ganz anders machen. Aber das wollte ich nicht. Ich wollte, dass der Tod beim Schreiben neben mir sitzt und ich zu ihm sagen kann: Bevor du kommst, wird es noch richtig geil.
taz: Ihre Lesereise hat gerade begonnen. Wie schwer ist es, dieses Buch vor Publikum zu lesen?
Lewina: Ich habe ja eher ein junges, weibliches Publikum bei meinen Lesungen. Neunzig, fünfundneunzig Prozent sind Frauen. Die Bücher über Sex und Beziehungen waren für mich immer sicheres Terrain bei Lesungen. Ich wusste, wo ich einen Gag machen oder mit dem Publikum spielen konnte. Bei diesem Buch muss ich mich erst noch rantasten. Ich bin aber erstaunt, wie viele Menschen, die anfangs Angst vor dem Thema hatten, hinterher sagen: War super, will ich mehr von!
taz: Kennen Sie einen guten Witz über den Tod?
Lewina: Leider nein. Ich kann mir aber auch Witze so schlecht merken. Es gibt ja diese „Treffen sich drei Typen im Himmel“-Witze, aber da fällt mir auch keiner ein.
taz: Ein Kapitel Ihres Buches beschäftigt sich mit dem Thema selbstbestimmtes Sterben. Was hat Sie daran interessiert?
Lewina: Eigentlich wollen Lebewesen ja nichts mehr, als am Leben bleiben. Aber die Beschäftigung mit dem Thema hat für mich eine neue Dimension aufgemacht. Dass ich entscheiden kann zu sterben, wenn es für mich kein „weiter mehr“ gibt. Ich muss mich dem Tod nicht ausliefern. Nicht den Schmerzen. Ich kann einfach gehen. Ich finde das einen versöhnlichen Gedanken, dass man sich die Kontrolle über den Tod auch zurückholen kann.
taz: Wie hat sich der Schreibprozess bei diesem Buch von Ihren anderen Büchern unterschieden?
Lewina: Der Prozess war genau so chaotisch wie bei den anderen Büchern. Was anders war: Das Schreiben hat sich sehr lange gezogen. Es war intensiver.
taz: Dafür ist das Buch beneidenswert kurz geworden, 140 Seiten.
Lewina: Die perfekte Länge für dieses Thema finde ich. Das kann man an einem Nachmittag so wegsnacken.
taz: Manche behaupten, dass jeder Text, den man schreibt, auch jedes Buch, das man schreibt, in Wirklichkeit ein Brief an eine bestimmte Person ist.
Lewina: Spannende Annahme. Dann ist dieses Buch natürlich ein Brief an meinen Sohn.
taz: Noch einmal Max Frisch: „Warum weinen die Sterbenden nicht?“
Lewina: Vielleicht sind sie sich dessen nicht gewahr, dass sie sterben. Und wenn sie sich gewahr sind, dann haben sie sich damit schon abgefunden. Das habe ich bei älteren Menschen, die sterben, schon einige Male mitbekommen. Sie sind bereit. Auch wenn sie trotzdem vielleicht noch hadern. Entweder sie freuen sich, oder sie denken, es ist dann vorbei, es ist dann erledigt. Dann hat das hier endlich ein Ende.
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