Trainingslager für die Tugenden

In Rebekka Kricheldorfs Theaterstück „Die Guten“ diskutieren in Göttingen die Tugenden Gerechtigkeit, Mäßigung, Tapferkeit und Weisheit, ob sie angesichts von Klimawandel, Kriegsschrecken und Rechtsruck noch relevant sind

Überdrehter Sprachgestus und Stand-up-Comedy-­Ästhetik: Leidenschaftlich streiten sich die Kardinal­tugenden ums Gute um des Guten willen Foto: Anton Säckle/DT Göttingen

Von Jens Fischer

Ach, der Mensch ist nicht gut. Hochmut, Neid, Habgier, Völlerei, Wollust usf. auf der Todsündenliste befeuern mit höllischen Flammen das selbstverliebte Ego. Da es aber lebensnotwendig ist, in sozialen Gruppen zusammenzuleben, sind Gegenspieler vonnöten, die auf Kompromisse drängen. Die Philosophen der Antike haben sich deshalb vier Kardinaltugenden ausgedacht, als erstrebenswerte Charaktereigenschaften, die später auch die christlichen Kirchen als Selbsterziehungsziel ausgaben und heutzutage von demokratischen Parteien als Handlungsorientierung propagiert werden.

Der Gerechtigkeit, Mäßigung, Tapferkeit und Weisheit verhilft Rebekka Kricheldorf als „weiblich gelesene Allegorien“ in ihrem Stück „Die Guten“ jetzt in Göttingen zum großen Auftritt, damit sie engagiert darüber konferieren, inwieweit ihre Ideale noch relevant sind, wie stark ihnen gehuldigt wird und wie sich ihre Beliebtheit entwickelt hat.

Trotz oder gerade wegen all der Kriegsschrecken, des Klimawandels, alltäglicher Diskriminierungserfahrungen, einer politischen Rechtswende des Zeitgeistes. Aber nicht deprimiert, sondern quietschfidel in futuristischem CSD-Paraden-Schick stürmt das Quartett mit seinen Insignien – wie Schlange, Schwert, Spiegel, Säule, Krug – in das mit Tugenddarstellungen der bildenden Kunst und Versatzstücken aus Omas Wohnzimmer geschmückte Deutsche Theater.

Erst mal wird das Publikum animiert, sich selbst zu beklatschen für all das, was es heute schon Gutes getan hat. Der Applaus ist überschwänglich und schnell ist von einer „Tugenddämmerung“ die Rede. Sind Laster und Sünden besiegt, zumindest in Göttingen, wo seit Jahren die Grünen die Wahlen gewinnen? Dem Pressespiegel der letzten Jahrzehnte entnimmt das Bühnenquartett, dass Nachhaltigkeitsstreben, Empathie, Solidarität und ökologische Verantwortung als kollektive Praxis verstärkt nachgefragt würden. Dystopien seien out, Utopien in. Und „das Böse heißt ja bekanntlich immer, immer Vladimir“, bleibt überschaubar und fern. Also alles gut?

Aber schon die ersten Nachfragen initiieren eine leidenschaftlich tobende, satirisch gebildete und trotzdem differenzierende Debatte, welche Tugend nun tatsächlich welche Spuren hinterlassen hat – oder warum nicht – und mit welcher es am meisten Probleme gibt. Dabei geraten die vier immer wieder in Selbsterklärungsnöte und streiten sich auf der Bühne um die Möglichkeiten zum Guten, also darum, das „Gute um des guten Willens“ zu tun und nicht „um der guten Wirkung Willen“.

Schon kippt die Stimmung, den Gutmenschen wird misstraut. „Inzwischen praktizieren die eine dermaßen wollüstige Askese, ein dermaßen gieriges Gutsein, eine dermaßen hemmungslose Selbstkontrolle“, beklagt sich Temperantia und betont, nicht mehr zu wissen, ob sie mit den Exzessen des Maßhaltens gefeiert oder missachtet werde. Bald kokettieren alle selbstironisch mit ihren Fans: „Wir platzen vor Stolz auf unsere Bescheidenheit fast aus unseren Bio-Schurwoll-Anzügen“.

Mit wir seien die „Moralaristokraten“ und „Gesinnungshedonisten“ gemeint. Die kann Justitia nur noch mit Antidepressiva ertragen: „Alles ist beschissen wie immer.“ Die boomende politische Korrektheit sei vielfach eher psychologischer Egoismus zum Besserfühlen, also Heuchelei denn fundamentale Kurskorrektur – und der öffentliche Selbsteifer von moralischem Überlegenheitsgetue einfach peinlich. Weswegen nun auch Publikumsbeschimpfungen aufflackern. Ein grundsätzliches Gutmenschen-Bashing, wie es aus der rechtspopulistischen Ecke tönt, wird daraus aber nicht.

Sind Laster und Sünden besiegt, zumindest in Göttingen, wo seit Jahren die Grünen die Wahlen gewinnen?

Sprachlich ist das Stück eine formulierungsspaßige Freude. Inhaltlich beeindruckt, wie humorvoll leicht aktuelle Diskurse angeschnitten und dabei doch in schlauen Zuspitzungen ernst genommen werden. Gelungen ist es auch, wie Regisseurin Meera Theunert den überdrehten Sprachgestus temporeich in eine Stand-up-Comedy-Ästhetik übersetzt. Gestisch exzessiv zicken, albern, schreien, argumentieren und polemisieren die Darstellerinnen Marie Seiser, Judith Strößenreuter, ­Andrea Strube und Charlotte Wollrad gegen- und miteinander, und begeistern mit ihrem spielfreudigen Vergnügen, den Text zu verlebendigen.

In der Hitze von 90 Minuten dauererregtem Dampfplaudertheater um Tugendwillen, -können und -versagen folgt final die Ankündigung, dass nun der große Krieg gegen die Sünden anstehe. Aber der ist nur etwas für die Tugenddogmatiker, denn die menschliche Natur ist eben nicht gut – nicht böse. Sondern beides. Die Komplexität des Themas vermittelt dieser theatrale Ethik-Grundkurs höchst anregend mit überbordender Komik. Sehenswert!

„Die Guten“: heute, 20 Uhr, Deutsches Theater Göttingen; weitere Aufführungen: 18. 9., 26. 9., 2. 10., 9. 10., 17. 10.; dt-goettingen.de