Jenni Zylka
: Egg Chair auf Reisen

Der Sommer ist so gut wie vorbei, und wieder ging er postkartenfrei über die Bühne. Nicht, dass es früher in meinem Briefkasten von Urlaubsgrüßen nur so wimmelte. Aber heutzutage schreibt mir nicht mal das Maskottchen einer internationalen „Design-Hotel-Kette“, bei der es recht günstige Zimmer gibt. Es handelt sich dabei um einen türkisfarbenen Egg Chair, und bei einem Besuch in einem jener Billighotels in Rostock entdeckte ich neulich vom Egg Chair höchstpersönlich stammende Ansichtskarten, die in mehreren Stockwerken als Poster-Ersatz die Wände zierten.

Und so ein Egg Chair kommt anscheinend ganz schön herum in der weiten Welt: Paris, London, New York – you name it, der olle Sessel war dort. Wie genau er angereist ist, erklärt er nicht, ich vermute aber, er ist nicht getrampt. Wahrscheinlich ist er eher per Flugzeug oder Zug unterwegs – und kann sich das leisten, weil er sich die Platzreservierungen spart. Er braucht ja keinen Platz.

Ein derart reiselustiges Sitzmöbel kann selbstredend auch schreiben: Die auf den Postern ausgestellten Sessel-Urlaubsgrüße sind stets in der ersten Person Singular verfasst. „Hallo“, kritzelt der Sessel etwa, „viele Grüße aus Paris! Es ist hier wunderschön, und heute habe ich den Eiffelturm gesehen.“

Die 672 Stufen bis zur zweiten Etage hochgeklettert ist er wohl nicht. Aber ein prinzipielles Interesse an (Innen-)Architektur ist bestimmt vorhanden. In Paris gibt es zudem jede Menge Design-Museen, und was hindert einen Egg Chair daran, sich beim Drei-Tage-Trip auch mal aus der eigenen Hotelkette zu entfernen und sich das legendäre „Terrazza“-Sofa von Ubald Klug, einen Original-Eames-Chair oder eine viktorianische Chaiselongue aus Nussholz von 1860 anzuschauen?

Das täte dem bislang etwas zu beiläufigen Ton seiner Urlaubsgrüße jedenfalls gut und würde sie persönlicher machen: „Hallo, toodeloo aus London! Heute habe ich einen lieben alten Freund, den Armsessel aus Walnuss, besucht, den Frederick Prince of Wales im Jahr 1731 für seine Räume im Hampton Court erstanden hatte“, könnte er schrei­ben. „Er war bester Laune und noch sehr gut in Schuss, seine grüne Satinsitzfläche leuchtete wie einst!“

Vielleicht reist der Sessel auch der Liebe wegen so viel: Alle Jubelsommerlöcher geistert schließlich die Geschichte der angeblich 15 objektophilen Menschen durch die Medien, die leblose Dinge lieben oder geheiratet haben. Schon 1979 wurde die Berliner Mauer geehelicht, 2022 ging ein Kalifornier in Las Vegas mit seinem Mobiltelefon den Ehebund ein, weil er sich mit dem Gerät eh auf sehr vielen Ebenen verbunden fühlte und es ihm schon oft geholfen habe. Und auch Trumps Vize-Kandidat J. D. Vance hatte ja mutmaßlich Sex mit einem Sofa.

Eventuell schreibt mir der Sessel also nur darum nicht, weil er seit Jahren eine leidenschaftliche Fernbeziehung mit einem anderen Menschen hat. Da kann man nur hoffen, dass das kein Sesselpupser ist.