Sicherheitsexperte über Radikalisierung: „Online sind Extremisten allein“
Sicherheitsexperte Hans-Jakob Schindler zeigt auf, wie sich Anschläge künftig verhindern lassen könnten. Es werde zu wenig über das Internet geredet.
taz: Herr Schindler, es scheint, als hätte sich der mutmaßliche Attentäter von Solingen in Deutschland radikalisiert. Wie hat sich Radikalisierung in den letzten Jahren verändert?
Hans-Jakob Schindler: Es gab einen Shift von offline zu online. Der Content im extremistisch-islamistischen Bereich ist professionell. Inhalte werden in zwei, drei Minuten vermittelt.
taz: Wie radikalisiert der IS im Netz?
Schindler: Aus Neugier schaut jemand, was der IS veröffentlicht hat. Findet erst banale Narrative. Darüber, was man essen darf, ob man rauchen darf. Der IS, wie auch andere extremistische Ideologien, scheint auf alles eine Antwort zu haben. Es gibt kein sowohl als auch, nur richtig oder falsch.
leitet das Counter Extremism Project (CEP). Zuvor war er Koordinator des ISIL-, Al-Qaida- und Taliban-Beobachtungsteams im UN-Sicherheitsrat.
taz: Wie wird man vom Interessierten zum Radikalen?
Schindler: Social-Media-Plattformen sind kommerziell. Das spielt Islamisten in die Hände. Sie produzieren Inhalte, die von Algorithmen hochgestuft werden. Irgendwann ist der Nutzer an den Content gewöhnt, reagiert nicht mehr drauf, scrollt weiter. Dann wird der Algorithmus radikaleres Material in den Feed spülen, um den User auf der Plattform zu halten. Man wird Schritt für Schritt durch die Radikalisierung geführt.
taz: Wie gut ist Deutschland dagegen gerüstet?
Schindler: Nicht gut. Ein Kollege erwähnte, dass Islamisten auf Social Media metaphorisch die Atombombe haben. Darauf erwiderte ich, dass die Sicherheitsbehörden leider nur eine metaphorische Fliegenklatsche haben. Im Internet sind Extremisten allein.
taz: Geht der Digital Services Act in die richtige Richtung?
Schindler: Er verpflichtet die Plattform, bei direkter Gefahr zu Leib und Leben einer Person Inhalte an das BKA weiterzuleiten. Die Inhalte, die sich Islamisten zuvor ansehen, geben juristisch gesehen erst mal keinen Hinweis auf Gefahr. Die Plattformen sind dann rechtlich nicht zur Zusammenarbeit verpflichtet.
taz: Gibt es weitere Gründe für eine Zunahme von islamistischen Anschlägen?
Schindler: Die Bundeswehr und internationale Truppen zogen sich 2021 aus Afghanistan und 2023 aus Westafrika zurück. Die Terrorismusbekämpfung in Kerngebieten des IS wurde militärisch abgebaut. Die Islamisten dort – auch im Irak und in Syrien – haben nun mehr Kapazitäten, um zu radikalisieren.
taz: Wie gehen islamistische Attentäter vor?
Schindler: Es gibt drei Anschlagstaktiken. Der Anschlag in Moskau war klassische Al-Qaida-Taktik. IS-Kämpfer wurden im Ausland angeworben, trainiert, reisten über ein Drittland nach Russland. Bei der zweiten Anschlagstaktik, beispielsweise bei der Gruppe von Tadschiken, die 2022 verurteilt wurden, haben sich die Islamisten hier radikalisiert. Sie standen im Kontakt mit IS-Leuten im Irak, Syrien, Afghanistan. Sie wurden bei der Planung der Anschläge angeleitet.
taz: Beim Anschlag in Solingen musste der IS prüfen, ob das Bekennervideo echt ist.
Schindler: Der Nachteil aus Sicht der Terroristen bei Taktik eins und zwei ist die Entdeckungsgefahr aufgrund regelmäßiger Kommunikation zwischen den Tätern und dem IS. Wir sehen nun öfter – wie in Solingen – eine dritte Taktik. Die Botschaft des IS ab 2017 lautete: „Kämpfe für das Kalifat bei dir vor Ort, mit Autos oder Messern.“ Der IS hat brutale Videos gedreht, an Geiseln vorgeführt, wie man einen Messerangriff durchführt.
taz: Wie beurteilen Sie die Angst vor weiteren Anschlägen in Deutschland?
Schindler: Angst ist nachvollziehbar. Die Polarisierung in westlichen Gesellschaften ist aber genau das, was Terroristen wollen.
taz: Die Destabilisierung ist Teil der Taktik.
Schindler: Der IS will Europa zerrütten, es spielt ihm in die Hände, wenn Deutsche dann muslimische Mitbürger seltsam angucken. Genau das ist – strategisch gesehen – das Ziel des Anschlags.
taz: Worüber sollte mehr gesprochen werden?
Schindler: Die Asyldebatte ist wichtig. Zu sagen, unser Hauptproblem bei Terrorismus seien fehlende Abschiebungen, ist am Thema vorbei. Denn das Internet wird mit einer Ausweisung nicht aufhören, zu funktionieren.
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