Gischt klärt den Blick

Wenn man Gischt-Effekte herausrechnet, lassen sich archäologische Funde exakter datieren. Wie das gehen könnte, erforscht die Anthropologin Andrea Göhring in Kiel

Wirkt bis weit ins Landes­innere hinein auf Flora und Fauna: Meeresgischt Foto: Wolfgang Runge/dpa

Von Harff-Peter Scnönherr

Gischt! Wer je am Meer stand, bei Wind und Wellen, vielleicht bei Sturm an einer zerklüfteten Felsküste, oder am Bug eines Schiffes das sich durch grobe See kämpft, weiß, was dieses lautmalerische Wort bedeutet: Ein feiner, salziger Nebel aus Wasser und Luft legt sich auf alles. Für viele ist das gleichbedeutend mit Urlaub.

Für Andrea Göhring, Biologische Anthropologin am Leibniz-Labor für Altersbestimmung und Isotopenforschung, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU), bedeutet der „Sea-Spray“-Effekt vor allem eins: Arbeit. Sie untersucht seinen Einfluss auf die Isotopensignatur von Organismen an der Ost- und Nordseeküste.

Atome geben ihr dabei nicht nur Auskunft über die Gegenwart, sondern auch über die Vergangenheit: Stabile Isotope zerfallen nicht; sie bleiben bestehen, über Jahrtausende. Ihre Untersuchung erlaubt es, Herkunft und Ernährung prähistorischer Tiere und Menschen zu bestimmen. Gischt gelangt an Land, treibt ins Landesinnere, beeinflusst Pflanzen, Tiere, die Nahrungskette und verändert so biochemisch den Menschen: Göhring generiert dazu Grundlagenwissen. Die Dimension des Effekts ist ebenso Neuland wie das Zusammenspiel der Parameter, die ihn entstehen lassen, vom Salzgehalt bis zur Landschaftsbeschaffenheit, vom Klimahintergrund bis zum Wind.

„Es geht darum, das Große und Ganze zu verstehen“, sagt Göhring. Zugleich hat sie ein Anwendungsziel im Blick: Berücksichtigt man den „Sea-Spray“-Effekt bei der Untersuchung archäologischer Funde, etwa Knochen und Zähnen, lassen sich genauere Erkenntnisse über das Alter der Archivalien gewinnen.

Und der Einfluss der Gischt reicht weit. „Teils ist er bis zu 100 Kilometer landeinwärts nachweisbar, teils sogar noch weiter“, sagt Göhring. „Das verblüfft viele. Aber wenn man bedenkt, dass hier bei uns mitunter Sand aus der Sahara niedergeht, kann man das gut nachvollziehen. Und Sandkörner sind ja weit schwerer als Gischttropfen.“ Derzeit baut Göhring an der CAU eine im Zuge des Emmy-Noether-Programms der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte interdisziplinäre „Nachwuchsgruppe“ auf.

„Die Pilotstudie, damals noch in München, war sehr gut gelaufen“, sagt Göhring. „Aber ob die Bewerbung auf die DFG-Förderung glückt, weiß man natürlich nicht. Da heißt es: Versuchen und hoffen.“ Göhring hat es versucht, hatte Erfolg: Rund 1,9 Millionen Euro stehen ihr jetzt zur Verfügung, für sechs Jahre. Das Projekt qualifiziert, wie immer beim Emmy-Noether-Programm, für eine Hochschul-Professur.

Göhring entnimmt an Nord- und Ostsee Pflanzenproben, zudem Boden- und Wasserproben von ihrem Wuchsort. Sie entnimmt auch Proben von Säugetieren, die in Küstennähe leben. Hinzu kommen Versuche in der Klimakammer in einem Gewächshaus der CAU, um den Gischt-Effekt unter Laborbedingungen zu beobachten. Hier besprüht Göhring Strandhafer, Emmer-Getreide und Binsen mit Meerwasser; bei der Kontrollgruppe kommt Leitungswasser zum Einsatz. Dann wird eine Isotopenanalyse vorgenommen.

Ein Ziel der Forschungsgruppe ist eine Kartierung lokaler Gischtsignale. Eine Modellierung, ein Computerjob. Damit endet, nach drei Jahren, Phase 1 des Projekts. Phase 2 gilt dem Transfer der Ergebnisse von Phase 1 auf archäologische Funde. Eigene Grabungen gibt es dafür aber nicht. „Wir greifen auf bereits archiviertes Material zurück“, sagt Göhring.

Ursachen und Dimension des Sea-Spray-Effekts sind wissenschaftliches Neuland

Und dann erzählt sie von Haithabu an der Schlei, in Schleswig-Holstein, dem legendären Wikinger-Handelsplatz zwischen Skandinavien und Westeuropa, dem Baltikum. Als die Stadt 1066 geplündert und niedergebrannt wurde, wurde sie nicht wiederaufgebaut – Schleswig entstand, unmittelbar darauf, ganz in der Nähe.

Haithabu und Schleswig spielen auch in Göhrings Dissertation von 2019 eine große Rolle; auch sie befasst sich mit „Isotopen-Fingerabdrücken“. Aus beiden Städten liegen große Datensätze zu Tieren und Menschen vor, und das erlaubt Göhring, Data-Mining anzuwenden, zur Erkennung von Mustern. Sie arbeitet dafür mit dem Institut für Informatik der CAU zusammen.

Göhrings Isotopenanalysen tragen also nicht nur zum besseren Verständnis der Kräfte des Meeres bei. Sie erweitern unser Wissen über unser Leben an Land. Und sie dienen der Generierung des Wissens über den Einfluss der Gischt – darüber, wie sie die Herkunfts- oder die Ernährungsrekonstruktion beeinflusst, das mit Hilfe der Radiokohlenstoffdatierung (C-14) bestimmte Alter archäologischer Funde. Das wird sich, wenn man den Gischt-Effekt einbezieht, künftig exakter bestimmen lassen.