Missbrauchsskandal in Frankreich: „Nicht auch noch Abbé Pierre!“

Der französische Armenpriester war eine Ikone. Nun wurde bekannt: Abbé Pierre soll Frauen über Jahrzehnte hinweg sexuell belästigt haben.

Abbe Pierre

Der katholische Priester Abbé Pierre nach einem Treffen mit Jacques Chirac im Élysée-Palast im Jahr 2002 Foto: Jacky Naegelen/reuters

PARIS taz | Der Gründer der Emmaus-Gemeinschaft, Abbé Pierre, wurde in Frankreich wegen seines Kampfs für die Armen und Obdachlosen fast wie ein Nationalheiliger verehrt. 17 Jahre nach seinem Tod zerstört ein Bericht über sexuelle Aggressionen eine Legende. In Frankreich ist der Schock groß. Die von Abbé Pierre gegründete Emmaus-Stiftung ist konsterniert, möchte aber den mutmaßlichen Opfern glauben und sie unterstützen.

„Gewöhnlich weiß ich mich zu verteidigen, aber da war das ja so gut wie der Herrgott. Was kannst du machen, wenn dieser Herrgott dir so etwas antut?“ Das sagte im Verlauf einer Befragung eines von bisher sieben mutmaßlichen Opfern sexueller Aggressionen und Belästigungen durch den 2007 verstorbenen Armenpriester Abbé Pierre. Ihre gravierenden Vorwürfe betreffen eine sehr lange Periode von den 1970er Jahren bis 2005, das heißt bis zwei Jahre vor seinem Tod im hohen Alter von 94 Jahren.

Vermutlich lagen die Informationen schon seit Längerem vor. Die von Abbé Pierre gegründete Emmaus-Bewegung hatte eine unabhängige Untersuchung in Auftrag gegeben und jetzt die Ergebnisse des Berichts publiziert. Darin wird die Anonymität von sieben mutmaßlichen Opfern gewahrt.

Sie sprechen von anzüglichen Bemerkungen und unanständigen Annäherungsversuchen, aber auch von unerwünschten Küssen und Berührungen der Brüste durch den Priester. In allen Fällen handelte es sich um Frauen im unmittelbaren Umkreis des Geistlichen, um Mitarbeiterinnen der Gemeinschaft oder um von Emmaus unterstützte Personen. Eines der mutmaßlichen Opfer war zur Tatzeit minderjährig.

Nie allein zum Armenpriester

Alle erklärten, sie seien vom Verhalten des Abbés derart überrascht gewesen, dass sie sich wehrlos gefühlt hätten. Im Nachhinein erfährt man aus diesem Bericht aber auch, dass schon sehr früh die weiblichen Kolleginnen unter sich den Rat weitergegeben hätten, nie allein zum Armenpriester zu gehen.

Für die französische Öffentlichkeit dagegen kommen diese Enthüllungen unerwartet. „Nein, nicht auch noch der Abbé Pierre!“, lautet die erschütterte Reaktion vieler Franzosen. Denn der 1912 in Lyon unter seinem bürgerlichen Namen Henri Grouès geborene Emmaus-Gründer war eine Art Nationalheiliger und für viele ein Idol oder Vorbild einer praktizierten christlichen Nächstenliebe.

Dass nun auch er von der #MeToo-Welle eingeholt und von seinem Denkmalsockel gespült wird, hatten die Wenigsten erwartet. Und dies obwohl Abbé Pierre selber zwei Jahre vor seinem Tod in einem Buch gestanden hatte, dass er es in seinem Priesterleben mit dem Keuschheitsgelübde nicht immer so Ernst genommen und gelegentlich der „Macht der Versuchung nachgegeben“ habe. Er sei „kein Mythos“, hatte er selber gesagt.

Abbé Pierre gehört zu den am meisten verehrten Persönlichkeiten der Nachkriegszeit. Er hatte sich während des Zweiten Weltkriegs in der Résistance, der Widerstandsbewegung gegen die Nazibesetzung, engagiert, hatte Kinder verfolgter jüdischer Familien aufgenommen und anderen zur Flucht verholfen. Danach dient er als Feldprediger in den Streitkräften der France libre und wurde von General de Gaulle als Kriegsheld ausgezeichnet.

Der Fall des „Nationalheiligen“

Als Priester stieg er 1945 in die Politik ein. Drei Mal wurde er für die christdemokratische Partei MRP als Abgeordneter ins nationale Parlament gewählt. Legendär wurde er wegen seines jahrzehntelangen Kampfs für die Obdachlosen und wegen seines historischen Appells im Radio zu einem „Aufstand der Güte“ im harten Winter von 1954.

Dank dieses Aufrufs kamen 500 Millionen Francs zusammen. Mit den Spenden wurden Nahrungsmittel gekauft und Notunterkünfte für Obdachlose gebaut. Die von ihm 1949 gegründeten Emmaus-Gemeinschaften, existieren heute in mehr als 40 Ländern. Frankreich hat mit dem Fall seines „Nationalheiligen“ einen Mythos weniger.

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