Alles könnte passieren

Mit der Erweiterung des Denk- und Spielbaren begeistert das Doppelalbum „We Have Dozens of Titles“ des US-Avantgarderock-Duos Gastr del Sol

Gastr del Sol, Jim O’Rourke, links, David Grubbs, rechts Foto: Benjamin Clarke

Von Benjamin Moldenhauer

Die Avantgarde aus dem Geist der Freiheit, die man vom Punk geschenkt bekommt, die klingt im Falle des US-amerikanischen Duos Gastr del Sol so: eine Akustikgitarre, gezupft, eine Linie immer wiederholend und variierend. Dazu sparsames Orgelrauschen und im Hintergrund herumhastende Elektronik, ein paar Klaviertöne. Drei, vier Elemente, aber durch sanfte Verschiebungen ändert sich beständig alles, und doch klingt das Stück nicht wie ein Verlauf, sondern wie ein Zustand.

„We Have Dozens of Titles“, so heißt eine Compilation, die unveröffentlichte Live- und bis jetzt nur verstreut erhältliche Studio-Aufnahmen von Gastr del Sol im Bündel versammelt. Ihr Reigen beginnt mit „The Seasons Reverse“, dem ersten Song des letzten, 1998 erschienenen Albums des Duos von David Grubbs und Jim O’Rourke. In einer Live-Version, die ein Jahr zuvor im kanadischen Victo­ria­ville bei einem Festival aufgenommen wurde, in dieser Fassung noch ohne Gesang.

Gastr del Sol wurden damals, in den Neunzigern, im Zuge des von Chicago ausgehenden Postrock-Hypes rezipiert. Das Duo hat aber mit dem am Ende teils sinfonischen Instrumentalrock, den man unter diesem Genre fasste, kaum etwas zu tun. Auch die irgendwie vielleicht wesensverwandten Tortoise (Tortoise-Schlagzeuger John McEntire und -Bassist Bundy K. Brown spielten in der ersten Gastr-del-Sol-Besetzung mit) waren eigentlich auf einer anderen Baustelle unterwegs. Gastr del Sol verwendeten alles, was musikhistorisch passend erschien, mit Ergebnissen, die man so vorher und seit dem Bandsplit 1998 so nicht mehr gehört hat. Was dazu führt, dass man sich zum Beispiel an das Doppelalbum „Upgrade & Afterlife“ (1997) sowohl als eines der besten Folk- oder Elektronik- oder Avantgarde-Alben der Neunziger erinnern kann.

Das ergibt dann eine zeitlose Schönheit, nicht im Sinne eines zeitlosen Klassikers oder etwas Kanonischem. Sondern in dem prozesshaften Umstand, dass hier eine Musik sozusagen neben der Musikgeschichte herläuft, auch wenn in den Stücken von Gastr del Sol zitiert und verwiesen wird, dass es nur so rauscht. Nur klingt die Musik so, als würde alles, was hier aufscheint – das Gitarrenspiel von John Fahey, minimalistische Elektronik, Noise, Folk, Field Recordings, Musique concrète –, ihrer Herkunftszeit enthoben und aus ihrem jeweiligen Entstehungskontext herausgelöst.

Zeitlosigkeit ist ein Begriff mit dem David Grubbs im Interview mit der taz dann allerdings nicht gar viel anfangen kann: „Ich hatte nie das Gefühl, dass Gastr del Sol nach Bands klang, die vor oder nach uns kamen. Zeitlosigkeit ist eine seltsame Kategorie. Darauf haben wir nicht abgezielt. Aber dass wir nicht so leicht mit anderen Mu­si­ke­r:in­nen oder Gruppen verwechselt werden können, verleiht unserer Musik vielleicht die Qualität, die hier beschrieben wird.“

Die Vielfalt und Unberechenbareit von Gastr del Sol hätten einfach mit der Begeisterung von Grubbs und Jim O’Rourke für alle möglichen Arten von Musik zu tun gehabt. „Viele Gruppen hatten damals eine klare stilistische Handschrift und haben mehr oder weniger eine bestimmte Sache verfolgt. Zum Beispiel Bastro, die Band in der ich vorher gespielt habe.“ Gastr del Sol seien danach eine Entlastung gewesen.

„We Have Dozens of Titles“ kommt als Veröffentlichung jetzt, ein Vierteljahrhundert nach dem Ende, dennoch überraschend. Gastr del Sol waren weitgehend vom Radar verschwunden. Und damit eine der konzeptuell interessantesten und musikalisch überraschendsten Bands der Neunzigerjahre. Die Schönheit ihrer Musik kann man auch an ihren hier versammelten entlegeneren Aufnahmen nachvollziehen.

Man kriegt sie nie ohne Störgeräusche und selten ohne Ironie oder Selbstironie, die diese Musik vor Bedeutungsschwere und Kopflastigkeit rettet. In dem ebenfalls in Victoriaville aufgenommenen, gut zehnminütigen „Blues Subtitled No Sense of Wonder“ wird eine simple, quasi romantische Klaviermelodie von flirrenden Elektronik-Flächen überblendet. Und die Bing-Crosby-Coverversion „The Bells of St. Mary“, zuerst erschienen 1996, auf einem japanischen Sampler mit Weihnachtsliedern, loopt den orchestralen Easy-Listening-Schwulst des Originals, um ihn sanft zu zerdengeln.

Die Schönheit ihrer Musik, man kriegt sie nie ohne Störgeräusche und selten ohne Ironie

Hier wie auch in den beiden über jeweils mehr als 15-minütigen Stücken „The Harp Factory on Lake Street“ und „Onion Orange“ verbinden sich im Umgang mit dem Ausgangsmaterial Zartheit und ein freier Zugriff auf Musikgeschichte. Die Musik von Gastr del Sol ist immer eine Musik der Möglichkeiten, dem Eindruck nach ohne stilistische Grenzen, und trotzdem wurde das alles hörbar streng konzeptioniert.

Eine Erweiterung des musikalisch Denk- und Spielbaren, auch heute noch unverzichtbar, und ohne jedes Anything goes. Vielleicht rührt daher die Spannung von Gastr del Sol. Es könnte alles passieren, zugleich passiert aber nicht alles, sondern immer nur das, was gerade passieren soll, entschieden von zwei Musikern, die sehr genau wissen, was sie gerade in diesem Moment an Sounds, Klangfarben und Strukturen produzieren wollen.

David Grubbs begann als Gitarrist in der Post-Hardcorepunkzene und hat sich der europäischen Avantgarde aus dem Geist von Punk und mit einer anderen Offenheit und eben auch Lockerheit und Respektlosigkeit angenähert, bei gleichzeitiger Liebe zum Material. Eine Gastr-del-Sol-Reunion wird es dem Vernehmen nach nicht geben. Er und der seit Längerem in Japan lebende Jim O’Rourke sind nach dem Ende von Gastr del Sol getrennte Wege gegangen und haben jeweils Dutzende Soloalben veröffentlicht, die weiterhin von eben diesem Geist beseelt sind: Strenge und Freiheit in ein- und derselben Bewegung.

Gastr del Sol: „We Have Dozens of Titles“ (Drag City/Indigo)