„Die Anerkennung blieb aus“

Menschen mit Behinderungen, die von den Nazis ermordet oder sterilisiert wurden, sind bis heute nicht als NS-Opfer anerkannt. Der Bundestag will das ändern

taz: Herr Grundl, Sie haben einen fraktionsübergreifenden Antrag zur Aufarbeitung von NS-„Eu­tha­na­sie“ und Zwangssterilisation in den Bundestag eingebracht. Welches Ziel verfolgen Sie damit?

Erhard Grundl: Schätzungsweise 300.000 Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung wurden während der NS-Zeit ermordet, 400.000 wurden zwangssterilisiert. Dass diese explizit als NS-Opfergruppe benannt werden, ist ein Versprechen des Koalitionsvertrags, das wir einlösen wollen. Meinen persönlichen Impuls dazu hat mir eine Inschrift auf der Gedenkstätte des heutigen Bezirksklinikums Mainkofen in Niederbayern gegeben. Auf einer der Gedenktafeln stand, den Opfern sei zwar Mitgefühl und Anerkennung entgegengebracht worden, „eine Anerkennung als Verfolgte des Nationalsozialismus blieb aber aus“.

Was haben Sie vor?

Wir fordern von der Bundesregierung ein Projekt, um die Akten sowohl der Patienten wie auch der Täter zu sichern und der Forschung zugänglich zu machen. Außerdem soll es eine Fachtagung geben, die sich unter anderem mit der Unterstützung Betroffener und der Verankerung der NS-„Euthanasie“ etwa in der Bildung oder auch der medizinischen Ausbildung befasst. Und wir fordern, dass die Gedenkstätten an den Orten der ehemaligen „T4“-Tötungsanstalten auch in Zukunft nachhaltig unterstützt werden.

Fast 80 Jahre sind seit dem Ende des Nationalsozialismus vergangen. Warum kommen die Bemühungen so spät?

Das stimmt. Es ist eine Katastrophe, dass es so lange gedauert hat. Gleichzeitig passt es leider gut in die Zeit, wenn ein Björn Höcke davon spricht, dass Menschen mit Behinderung nicht in die Regelschule gehen sollen, weil sie andere beim Lernen aufhalten. Die von den Rechtsradikalen im Bundestag befeuerte Debatte darüber, wer ein „nützliches“ Mitglied der Gesellschaft sei, zeigt leider: Eine kontinuierliche Aufarbeitung braucht es noch viele Jahre im Nachhinein. Erinnerungskultur ist nicht nur wichtig als Erinnerung, sondern auch, um Mechanismen zu erkennen, die zu einem totalitären Regime geführt haben.

Was sagen die Betroffenen?

Überlebende gibt es nur noch eine Handvoll. Aber es geht auch darum, dass deren Familien Gerechtigkeit erfahren.

Was wünschen sich Angehörige der Opfer?

Für die Familien ist entscheidend, dass ihre ermordeten Angehörigen als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt werden. Deshalb stand das auch für mich immer im Mittelpunkt.

Es gibt schon länger Kritik, dass eine Anerkennung der „Euthanasie“-Opfer durch das Bundesentschädigungsgesetz bis heute ausbleibt. Warum finden sich keine Reformvorschläge dazu in Ihrem Antrag?

Foto: imago

Erhard Grundl

61, ist seit 2017 Bundestag­s­abgeordneter für Bünd­nis 90/Die Grü­nen. Er ist Sprecher seiner Fraktion für Kultur- und Medienpolitik.

Ich kann nur sagen, dass es mich sehr freut, dass die Union den Antrag mit stellt. Bei Themen, die den Nationalsozialismus betreffen, ist es wichtig, eine breite Unterstützung im Parlament zu finden. Wir wollten zwar, dass Opfer im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes anerkannt werden. Aber im aktuellen Antrag ist das nicht geregelt, das stimmt.

Soll sich der Antrag auch positiv für Menschen mit Behinderungen und psychischer Erkrankung heute auswirken?

Auf jeden Fall. Die Diskussion über „lebensunwertes Leben“ wird von antidemokratischen Kräften heute wiederholt, wenn auch vielleicht subtiler. Die Stigmatisierung von Menschen mit Behinderung ist auch mit dem Ende des Nationalsozialismus nicht vorbei. Das treibt Menschen mit Behinderung und ihre Initiativen auch heute um. Deshalb ist es auch so wichtig, dass wir die Forderungen des Antrags – etwa bei der Sicherung der Akten – ausdrücklich in Zusammenarbeit mit Verbänden von Menschen mit Behinderung sowie Vertreterinnen und Vertretern der Disability Studies vorantreiben.

Interview Sabrina Osmannn