Politische Straftaten steigen auf Allzeithoch

Vor allem rechte Delikte nahmen 2023 zu. Aber auch der Nahostkonflikt schlägt sich in der Statistik nieder. Innenministerin Nancy Faeser spricht von einer „Eskalation“

2023 wurden 42 Synagogen angegriffen. In diesem Jahr traf es unter anderem die Synagoge in Oldenburg Foto: Hauke-Christian Ditsch/dpa

Von Konrad Litschko

Es sind Taten wie die Schüsse eines Rechtsextremisten auf eine schwangere Pakistanerin im Mai 2023 in Hamburg, abgefeuert von außen durch ihre Wohnungstür – die Frau überlebte. Oder der Fall eines Mannes in Regensburg, der im Oktober einen 20-jährigen Syrer aus rassistischen Gründen unvermittelt von einer Brücke stieß. Oder die Schläge eines Lehrers in Cottbus gegen einen 12-jährigen syrischen Schüler, wonach dieser stationär ins Krankenhaus musste.

All dies waren politisch motivierte Straftaten im vergangenen Jahr – und ihre Zahl stieg erneut auf ein Allzeithoch. Gab es bereits im Jahr 2022 einen Spitzenwert seit Einführung der Statistik beim Bundeskriminalamt (BKA) im Jahr 2001, wuchsen diese nun im vergangenen Jahr noch einmal um knapp 2 Prozent auf 60.028 Straftaten an. Damit fand in den vergangenen zehn Jahren eine Verdoppelung der politischen Straftaten statt.

Den mit Abstand größten Teil stellten 2023 rechte Straftaten, mit 28.945 Delikten. Das bedeutet einen Anstieg um 23 Prozent zum Vorjahr – und ebenfalls den höchsten Stand seit 2001. Es folgen 16.678 Straftaten, welche die Polizei der Kategorie „Sonstige“ zuordnete, in die etwa Reichsbürger fallen oder Coronaprotestierende. Im Vorjahr machte diese Gruppe noch den größten Anteil aller Delikte aus, nun sank er um ein Drittel – auch weil die Coronaproteste zuletzt deutlich abnahmen.

Linke Straftaten stiegen um 11 Prozent auf 7.777 Taten. Einen Großteil machten hier die Klimaproteste der Letzten Generation und anderen aus, bei denen 3.303 Taten gezählt wurden, welche die Polizei zu drei Vierteln der linken Szene zurechnete.

Auch Delikte, die durch „ausländische Ideologie“ motiviert waren, stiegen um ein Drittel auf 5.170. Hier zählen etwa Straftaten mit Bezug zum Nahost- oder Ukrainekrieg dazu oder Auseinandersetzungen zwischen hiesigen PKK-Anhänger*innen und nationalistischen Türk*innen. Auf kleinerem Niveau, aber sehr deutlich stiegen auch „religiös motivierte“ Straftaten, worunter islamistische fallen: von 481 auf 1.458 Delikte. Auch dieser Anstieg hat vor allem mit Reaktionen der Szene auf den Nahostkrieg zu tun.

Ein Drittel der politischen Straftaten waren Propagandadelikte. Im rechten Bereich machten sie gut die Hälfte aller Straftaten aus. Auch bei den Gewalttaten lag die rechte Szene vorne: mit 1.270 Delikten, ein Anstieg von 8,5 Prozent zum Vorjahr und der höchste Stand seit 2016. Darunter waren auch vier versuchte Tötungsdelikte. Linke Gewalttaten lagen bei 916 Delikten, „sonstige“ bei 794.

Im Bereich der „religiösen“ und „ausländischen“ Ideologie kam es auch zu drei vollendeten Tötungsdelikten: So hatte etwa in Duisburg ein Islamist einen 35-Jährigen erstochen und vier weitere Männer schwer verletzt, weil er „Ungläubige“ töten wollte. Insgesamt sanken politische Gewalttaten aber um 11,9 Prozent.

Dafür schlugen sich die Reaktionen auf den neu aufgeflammten Nahostkrieg in der Statistik deutlich nieder. Insgesamt zählte das BKA 4.369 Straftaten im Kontext des Nahostkonflikts – im Vorjahr waren es 61. Von diesen Taten waren 223 Gewaltdelikte. Die meisten der Straftaten, 63 Prozent, wurden dem Bereich „ausländische Ideologie“ zugeordnet.

Insgesamt verdoppelten sich antisemitische Straftaten fast zum Vorjahr, auf 5.164 Delikte. Die Hälfte der Taten wurde nach dem 7. Oktober notiert. Mehr als die Hälfte der antisemitischen Taten wurde „rechts“ einsortiert, ein Fünftel als „ausländisch“ motiviert. Zugleich stiegen auch islamfeindliche Straftaten von 610 auf 1.464 Fälle. 70 Moscheen wurden im vergangenen Jahr angegriffen und 42 Synagogen – aber auch 92 Kirchen.

Den größten Anteil bei der Hasskriminalität machen aber erneut „fremdenfeindliche Taten“ aus, sie stiegen von 10.038 auf 15.087 Delikte. Auch Taten, die auf die sexuelle Orientierung der Opfer zielten, stiegen von 1.005 auf 1.499 Delikte an.

Das BKA besorgen auch die Angriffe auf politisch Aktive, wie zuletzt die Attacke auf den sächsischen SPD-Europakandidaten Matthias Ecke in Dresden und weitere Wahlkämpfende. Schon im vergangenen Jahr gab es demnach 5.388 Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger – ein Anstieg um ein Drittel. 118 davon waren Gewaltdelikte. Die meisten Taten, 3.991 Fälle, ließen sich für die Polizei politisch nicht zuordnen. Danach rangierten mit 788 Delikten rechte Tatmotive.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sprach am Dienstag von einer „Eskalation der politischen Aggression“. Als Antwort müsse man „unmissverständlich zeigen, dass der Rechtsstaat diese Gewalt nicht hinnimmt“. Die Justiz sei hier ebenso mit schnellen Prozessen in der Verantwortung wie die Polizei mit hohem Ermittlungsdruck. Der Rechtsstaat müsse „deutliche Stoppsignale“ setzen.

Auch BKA-Präsident Holger Münch warnte vor „Radikalisierungstendenzen“ in Teilen der Bevölkerung. „Diese Entwicklung müssen wir sehr ernst nehmen, denn sie bedroht unsere Demokratie.“ Die Polizei lege daher auf den Kampf gegen politische Kriminalität eine „hohe Priorität“.

Unabhängige Opferberatungsstellen warnten am Dienstag aber, dass die Zahlen des BKA längst nicht alle Straftaten abbildeten. So zählten die Initiativen allein in den elf Bundesländern, in denen sie Beratungsstellen haben, im vergangenen Jahr 2.589 rechte, rassistische und antisemitische Gewalttaten – gegenüber den vom BKA gezählten 1.270 rechten Gewaltdelikten. Auch zwei Todesopfer rechter Gewalt werden dort gezählt, anders als vom BKA: Der Mord eines Coronaleugners an seiner Mutter im bayerischen Thiersheim, um die Impfung seines jüngeren Bruders zu verhindern. Und der sozialdarwinistische Mord an einem Wohnungslosen in Horn Bad-Meinberg (Nordrhein-Westfalen) durch drei Jugendliche.

Die politischen Straftaten haben sich in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt

Judith Porath vom Vorstand der Beratungsstellen warnte vor einer „dramatischen Ausweitung von Gefahrenzonen durch eine unerträgliche Normalisierung von Rassismus und Antisemitismus“. Die Hälfte aller Taten hätte ein rassistisches Motiv gehabt, antisemitische Taten seien um ein Drittel gestiegen. Auch 585 Kinder und Jugendliche seien betroffen gewesen, was besonders erschreckend sei.

Porath gab für dieses Klima auch der AfD eine Mitschuld. Zugleich gebe es aber auch, anders als in den Neunzigern, eine aktivere Zivilgesellschaft. Auch bei Polizei und Justiz sei dazugelernt worden – immer noch aber komme es dort zu rassistischen Täter-Opfer-Umkehrungen, mehrere Prozesse zu rechten Straftaten würden weiter verschleppt.

Auch Jens-Christian Wagner, Direktor der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora in Thüringen, berichtete von Anfeindungen gegen sich und Mitarbeitende – und machte die AfD ebenso mitverantwortlich. Er forderte, ein AfD-Verbot endlich „sehr ernsthaft zu prüfen“. Der Rechtsstaat müsse sich hier wehrhaft zeigen.

Der sächsische Student Pedro M. berichtete auf einer Pressekonferenz der Beratungsstellen, wie seine Mutter im April in Dresden rassistisch angegriffen wurde. Ein Mann hatte ihr unvermittelt ins Gesicht geschlagen. Er sei dankbar, dass zwei Männer seiner Mutter zu Hilfe eilten. Das sei das ermutigende Zeichen: dass mancherorts auch Zivilcourage gezeigt werde – denn der Kampf gegen Rassismus müsse im Alltag beginnen.

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