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Kritik an EUBesser als ihr Ruf

Kommentar von Martin Unfried

Der Europäischen Union wird oftmals ein Demokratiedefizit bescheinigt. Dabei haben Abgeordnete dort teilweise mehr Handlungsmacht als in Berlin.

Tag der offenen Tür im EU-Parlament in Brüssel im Mai 2024 Foto: Michael Currie/Zuma Press/imago

I n vielen deutschen Medien werden auch im Jahr 2024 noch Bilder der Europäischen Union abgerufen, die zwar verständlich sind, aber doch nicht immer zutreffend: Typische Beschreibungen beinhalten nichttransparente Verhandlungen, beklagen die Überregulierung durch Bürokraten der Europäischen Kommission oder das Gemauschel zwischen Parlament und den Mitgliedstaaten.

Tatsächlich scheint es von außen nicht so einfach zu sein, den Politikprozess zu verfolgen. Als Reaktion darauf wird leider häufig die ganze Keule ausgepackt: Der Pauschalvorwurf, da herrsche ein großes Demokratiedefizit. Doch die heutige Verfasstheit der EU ist nicht das Problem. Die EU ist nicht weniger demokratisch als die Bundesrepublik Deutschland.

In der Landesvertretung NRWs fand kürzlich eine gemeinsame Veranstaltung mit der EU-Kommission zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit statt. Es ging um einen überarbeiteten Verordnungsvorschlag. Und jetzt kommt’s: Der neue Vorschlag basiert auf einer Initiative des Europäischen Parlaments. Wer hätte das gedacht?

Mitgliedstaaten sollen in den Grenzregionen Koordinierungsstellen einrichten, um strukturelle Probleme – beispielsweise für Grenzpendler – zu beheben. Das Parlament hatte hier mit einer Resolution Druck gemacht und eine ausgearbeitete neue Version des Gesetzestextes vorgelegt, die in Teilen von der Kommission übernommen wurde.

Sandro Gozi, ein liberaler Italiener (der in Frankreich gewählt wurde) hat federführend an diesem Text gearbeitet. Das Beispiel zeigt den Einfluss einzelner Abgeordneter. Es ist also gar nicht so wesentlich, ob das Europäische Parlament nun ein formales Initiativrecht hat oder nicht. Dieses Parlament ist in den meisten Politikbereichen gleichberechtigter Gesetzgeber und kann auch Gesetze anstoßen. Und die Mitglieder des Parlamentes gestalten die Gesetzestexte mit ihren Änderungsvorschlägen mit. So hat die deutsche Grüne Ska Keller als sogenannte Schatten-Berichterstatterin im Umweltausschuss ein Gesetz zur Verringerung der Umweltverschmutzung durch Mikroplastik mitformuliert, der in erster Lesung angenommen wurde.

Umso mehr hat mich gewundert, dass in der taz stand, die EU habe die einst so „rebellisch“ gestartete Ska Keller „verschluckt“, sie mache jetzt „irgendwas mit Fischerei“. Stimmt. Sie war neben dem Umweltausschuss auch im Fischereiausschuss tätig. Sie hat sogar in einem Interview ihr Motiv für den Rücktritt von der Fraktionsspitze dargelegt: Sie wollte stärker an der Gesetzgebung mitarbeiten.

Das Saarland und die Berliner Hinterzimmer

Dazu hatte sie im EU-Parlament wahrscheinlich sogar bessere Möglichkeiten als im Bundestag, wo tatsächlich die Mehrheitsfraktionen vieles abnicken, was aus den Ministerien kommt. Dagegen kam im EU-Parlament eine Mehrheit für das Renaturierungsgesetz zustande, weil außer Grünen, Liberalen, Sozialdemokraten und Linken am Ende doch auch einige Abgeordnete der Europäischen Volkspartei (EVP) dafür stimmten. Und obwohl Manfred Weber, der Fraktionsvorsitzende der EVP, das eigentlich hatte kippen wollen. Das heißt: Es geht in der EU und bei der Wahl vor allem um politische Mehrheiten. Und wenn sich die Mehrheiten ändern, ändert sich die Politik.

Vielen taz-Leserinnen mag die Politik der EU nicht links genug sein. Das hat allerdings nichts mit einem Demokratiedefizit zu tun, sondern mit den Mehrheiten der letzten Jahrzehnte: darum die Maastricht-Kriterien und das Griechenland-Desaster. Die Bundesrepublik ist ja auch nicht wegen der Schuldenbremse undemokratisch.

Die EU-Wahlberichterstattung in Deutschland ist unterirdisch. Oder kennen Sie etwa Nicolas Schmit?

Ich halte es mit dem Staatsrechtler Alexander Thiele: Die EU weist mit ihren beiden formalen Legitimationssträngen – dem direkt gewählten Europäischen Parlament einerseits und dem indirekt demokratisch legitimierten Rat (mit den Regierungen) andererseits ein beachtliches Legitimationsniveau auf. Wer anderer Meinung ist, soll das belegen, vor allem im Vergleich zur Verfasstheit der Mitgliedstaaten. Fun-Fact: Der Bundestag muss sich in Deutschland die Gesetzgebungsarbeit mit dem Bundesrat teilen, also einer Versammlung der Exekutive mit merkwürdiger Stimmengewichtung – ich sage nur: Saarland. Und dieser merkwürdige Bundesrat, der kann sogar mit Blick auf das Haushaltsrecht mitmischen! Im Vermittlungsausschuss im Hinterzimmer.

Klar ist: Die Systeme sind natürlich nicht perfekt, dennoch wird nicht bei jeder Wahl die Bundesrepublik infrage gestellt. Was allerdings mit Blick auf die EU tatsächlich fehlt, ist eine solide Parlamentsberichterstattung zu laufenden Gesetzesvorhaben, die zivilgesellschaftliche Debatten in Europa möglich macht. Und natürlich Personalisierung. Die Wahlberichterstattung in Deutschland ist in dieser Hinsicht unterirdisch. Keine europäischen Debatten, nirgends. Oder kennen Sie Nicolas Schmit? Das ist der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten und Herausforderer von Ursula von der Leyen.

Zugegeben – wer in der EU was reißen möchte, muss sich mit den Details und Unzulänglichkeiten der Politik beschäftigen. Es handelt sich nämlich um eine politische Arena, inklusive politischen Streits, unterschiedlicher Ziele und eisenharten Kampfs um Mehrheiten. Wer beispielsweise linke Politik will, sollte für politische Mehrheiten dafür kämpfen. Wer mehr Klimaschutz möchte, braucht entsprechend Klimaschutz-Mehrheiten.

Die europäischen Rechtsaußen Geert Wilders und Marine Le Pen haben das übrigens verstanden, und sich deshalb von der AfD getrennt. Wie Giorgia Meloni wollen sie jetzt umschalten, vom EU-Bashing zum Anschluss an Mehrheiten in den Institutionen der Union. Und dann könnte tatsächlich was grundsätzlich falsch laufen in der EU. Aber nicht, weil das EU-Parlament den Haushalt zusammen mit den Mitgliedstaaten verabschiedet, sondern weil sich Mehrheiten radikal verschieben.

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9 Kommentare

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  • Danke für diese sehr europäische, positive Klarstellung!



    Natürlich ist es Teil der deutschen DNA zu Meckern, warum sollte die EU da eine Ausnahme bilden?



    Es ist auch viel einfacher ein schlechtes Urteil zu fällen, als sich richtig zu informieren, oder gar selbst aktiv zu werden.



    In diesem Zusammenhang, auch bzgl. o.g. Kritik an der Berichterstattung, erinnere ich an einen Artikel über die Ampel , hier in der taz, vor einem Jahr, Titel: "Besser als Ihr Ruf"...

  • Das wirkliche Defizit ist, das Wählerstimmen unterschiedlich gewertet werden. So hat die Wählerstimme eines französischen Wählers nur halb so viel Relevanz im Vergleich zu einem dänischen Wähler oder nur ein Zehntel eines Wählers in Luxemburg.

  • Endlich zieht mal jemand die richtigen Parallelen. Das Problem der EU ist nicht ein Demokratiedefizit oder Bürokratie, sondern der Föderalismus. Der EU-Rat ist so etwas wie unser Bundesrat. Da werden die Mitglieder auch nicht direkt gewählt, sondern von den Ländern ernannt. Was die Bürokratie angeht: die EU hat weniger Beamte als die Stadt München, ist aber für eine knappe halbe Milliarde Menschen zuständig. Ginge es besser? Aber hallo! Nur will niemand die Vereinigten Staaten von Europa und die gemeinsame Armee will auch niemand, weil niemand sich die deutschen Vorstellungen von "Parlamentsheer" antun will, von den Resten der deutschen Friedensbewegung, die sich in den letzen zwei Jahren unrühmlich hervorgetan haben, ganz zu schweigen.

  • Ach was! ©️ Vagel Bülow 💯💯

    Kritik an EU



    : Besser als ihr Ruf



    Der Europäischen Union wird oftmals ein Demokratiedefizit bescheinigt. Dabei haben Abgeordnete dort teilweise mehr Handlungsmacht als in Berlin.“

    Finde den Fehler! - 🙀🥳 -



    Und neben dem "hinkenden“ Parlament &!! Machtzentrum /.Kommission??



    “Sag mal so: Hab lange am Flurfunk Brüssel gehangen und gab‘s viel zu berichten anzumerken usw usf !



    EU-Big-Gun: Mal zur Kommission “Die mußt du dir vorstellen wie das Stein/Hardenbergsche



    Reformkabinett - Hochintelligent Hocheffizient Hochökologisch - weil sie wissen damit kannste ganz viel Geld verdienen!



    UND KOMPLETT UNDEMOKRATISCH !“

    kurz - Nataije - un nu komms du!



    &



    DA VOS - klemmt - ???



    Joseph Vogl “…Politische Entscheidungsmacht und modernes Finanzwesen gingen somit Hand in Hand. Gegenwartsdiagnostisch bestimmt Vogl einen spezifischen entdemokratisierenden Machttypus, den er in Anlehnung an Deleuze und Foucault als seigniorale Macht bezeichnet und der das internationale Governance-Regime des Finanzmarktkapitalismus strukturiert. „Die Figuren seignioraler Macht […] sind vielmehr informell, diffus, instabil und nicht in eine konzise Systemgestalt übersetzbar.



    …ff

    • @Lowandorder:

      …ff

      Man könnte hier von einer offenen und konstellativen Verdichtung, Fusion und Interaktion von Kräften unterschiedlicher Herkunft sprechen, deren Wirksamkeit gerade in der Schwäche institutioneller oder systemischer Prägung besteht.“



      de.wikipedia.org/wiki/Joseph_Vogl



      kurz - so geht das ©️ Kurt Vonnegut



      Was sind das für Medien wenn wir dicke Bücher lesen müssen / um zu kapieren was in der Welt abgeht!“ oäs

      • @Lowandorder:

        Ok Ok - mal Tacheles - im Supermarkt.



        Ein fülliger Herr in grauer Zopfstrickweste geht vorbe!!



        “Das ist einer der schwersten (in Brüssel werden die Lück nach der Anzahl der zu vergebenden Millionen klassifiziert)!“



        “Büst verrückt! Kreissparkasse am Schalter!“ “Wissenschaftsförderer!“ “Nein! Und was ist der?“ “Dipl.Ing!“ “Ok. Und wie kommt der dahin?“



        “Das weiß niemand!“

        Get it! Fein.



        Das zu ehra Demokratie-Hyp! Peinlich!

  • Grundsätzlich sehe ich das EP ähnlich wie der Autor:



    Es funktioniert viel eher, wie ein Parlament es sollte, als in den meisten Nationalstaaten.



    Das heißt jedoch nicht, dass man die mangelnde Demokratie auf EU-Ebene kleinreden oder gar leugnen sollte.

    Ohne die lange Liste, angefangen mit dem Ungleichgewicht der Wählerstimmen, auszupacken, wird die vorhandene EU-Demokratie auch nicht in Anspruch genommen:

    Bezeichnend dafür ist der fast völlig inhaltsleere EP-Wahlkampf.

    Bei Bu'tagswahlen ist es selbstverständlich, dass alle Parteien mit einigen klaren und bekannten Gesetzesvorhaben antreten.



    Wenn man die Demokratie ernst nimmt, heißt das:



    Auch im EP-Wahlkampf müssten Parteien - ob nur national oder abgestimmt - mit konkreten Initiativen antreten, beispielsweise diese oder jene Verordnung abzuschaffen bzw. eine Regelung einzuführen.



    Warum geschieht das nicht?

    Stattdessen haben bzw. erwecken Bürger und Politikerinnen in den Mitgliedsstaaten (und das berührt die Erwähnung der Berichterstattung im Artikel) immer noch den Eindruck, EU-Regeln fielen vom Himmel, und man könne rein gar nichts dagegen tun.

    Demokratie heißt, dass man etwas dagegen tun kann. :-)

  • "Was allerdings mit Blick auf die EU tatsächlich fehlt, ist eine solide Parlamentsberichterstattung zu laufenden Gesetzesvorhaben, die zivilgesellschaftliche Debatten in Europa möglich macht."

    Die gibt's auf Bundesebene doch auch nur rudimentär. Viel lieber hängt man sich an irgendwelchen populistischen Äußerungen und Talk-Show Debatten auf. Politiker X fordert Y. Das wird dann eine Woche lang debattiert und dann wird die nächste Sau durchs Dorf getrieben.

  • Danke für diese Klarstellung!