Eskalation in Neukaledonien: Am Rande eines Bürgerkriegs
Die gewaltsamen Ausschreitungen halten an – trotz des Notstands. Die Pariser Regierung schickt Militär und blockiert das soziale Netzwerk Tiktok.
Laut offiziellen Angaben kam am Donnerstagvormittag ein französischer Gendarm bei einem Unfall durch einen versehentlichen Schuss ums Leben kam. Damit stieg die Zahl der Todesopfer auf 5. Bei Zusammenstößen von Polizei und Gendarmerie mit rund 5.000 jungen Menschen wurden mehrere Hundert Personen, darunter mehr als 50 Angehörige der Ordnungskräfte, verletzt.
In Paris kündigte die Regierung nach einer neuen Krisensitzung Verstärkung für die rund 1.700 Polizisten durch zusätzliche 500 Beamte sowie die Entsendung von Militärs zur Sicherung des Flughafens und der Hafenanlagen an. Außerdem wurde der Zugang zu Tiktok blockiert. Das soziale Netzwerk wird vorzugsweise von den Randalierern benutzt. Ohne Einzelheiten zu nennen, beschuldigte Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin Aserbaidschan der „Einmischung“ in den Konflikt in Neukaledonien.
Die gewaltsamen Ausschreitungen haben sowohl die einheimischen Kanaken wie auch andere Bevölkerungsgruppen schockiert. Mehr als 200 Geschäfte, Unternehmen, Schulen und weitere öffentliche Einrichtungen sind in Brand gesteckt worden. Der Schaden wird bereits auf mehr als 150 Millionen Euro geschätzt. In den französischen Medien schildern Einwohner von Nouméa, dass sie aus Angst vor der Gewalt seit Wochenbeginn ihr Haus nicht mehr verlassen konnten. Lebensmittel und Treibstoff gehen offenbar aus. Vor den Tankstellen bildeten sich Warteschlangen, in den noch offenen Supermärkten sind viele Regale leer.
Wahlrechtsreform ist Auslöser für Unruhen
Auslöser der Unruhen war die Verabschiedung einer Wahlrechtsreform für Neukaledonien durch die Abgeordneten der Nationalversammlung am Dienstag in Paris. Diese Reform erfordert eine Verfassungsrevision und würde das politische Gewicht der kanakischen indigenen Bevölkerung bei einer erneuten Abstimmung über eine Unabhängigkeit Neukaledoniens weiter verringern. Die kanakischen Parteien betrachten diese Reform als Provokation und Sabotage des Entkolonisierungsprozesses, der mit den Verträgen von 1988 und 1998 eingeleitete wurde.
Neukaledonien hat als französische Kolonie seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine besondere spezielle Geschichte, der heute Rechnung getragen werden muss. Das weit von Frankreich entfernte Eiland diente lange als Strafkolonie, in die französische Häftlinge verbannt wurden, deren Nachkommen sich neben den Kanaken ebenfalls als Teil der einheimischen Bevölkerung betrachten. Dasselbe gilt für Vietnamesen, die aus der Kolonie Indochina als Arbeitskräfte nach Neukaledonien geholt wurden.
Dieser ethnisch gemischten Inselbevölkerung, in der die Kanaken mit rund 40 Prozent Anteil eine Minderheit darstellen, sollten die Friedensverträge mit einem speziellen Wahlrecht mit drei unterschiedlichen Listen von Stimmberechtigten Rechnung tragen: Alle Staatsangehörigen können an nationalen Wahlen teilnehmen.
Wer mindestens seit 10 Jahren in Neukaledonien lebt, darf die Vertreter*innen in eine der drei Provinzbehörden wählen. Doch zur Abstimmung über die Unabhängigkeit waren nur die neukaledonischen Bürger zugelassen, die seit 1998 ansässig waren und ihre Nachkommen. Um diese dritte Liste dreht sich der aktuelle Streit, der aus ungelösten historischen und gegenwärtigen Probleme der Kolonisierung resultiert.
Innenminister Gérald Darmanin wiederholte am Donnerstag, ein Verzicht auf die umstrittene Wahlrechtsreform stehe nicht zur Diskussion. Diese soll auf Wunsch von Staatspräsident Emmanuel Macron dem Kongress – also den vereinten Parlamentskammern – im Juni zur Verabschiedung vorgelegt werden. Mit dem Festhalten an einer für die Kanaken provokativen Verfassungsrevision geht die französische Staatsführung das Risiko einer weiteren Eskalation in Neukaledonien ein. Eine von Macron angeregte Diskussion bei einer Konferenz der Parteien wurde kurzfristig abgesagt.
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