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Anne Webers Roman „Bannmeilen“Erkundung der absoluten Gegenwart

Wo Sarkozy kärchern wollte und Asterix erfunden wurde: Anne Weber spaziert in ihrem Roman „Bannmeilen“ durch die berüchtigte Banlieue von Paris.

Hier könnten die Erzählerin und ihre Hauptfigur Thierry entlanggegangen sein: In Seine-Saint-Denis entstehen Olympia-Bauten Foto: James Hill/NYT7redux/laif

In Paris ist alles noch viel extremer. Der „Boulevard périphérique“, die Stadtautobahn mit meist vier Fahrstreifen pro Fahrtrichtung, umschließt nahezu hermetisch den historisch-bürgerlichen Kern. Was sich jenseits dieser Ringstraße befindet, ist weitgehend Terra incognita, mit verwahrlosten Hochhaussiedlungen, Lagerhallen und verrotteten Straßenzügen. Um diese Zone geht es, um soziale Brennpunkte und die Ghettos für Immigranten aus den ehemaligen Kolonien.

Anne Weber lebt seit ungefähr 40 Jahren in Paris, mittlerweile mit Blick auf Sacré-Cœur. Sie hat in etlichen Romanen und Essays psychologische und gesellschaftliche Feldstudien unternommen, in oft leichter, verspielter, aber auch tiefgründiger und feinfühliger Sprache. Mit „Bannmeilen“, der ursprünglichen Bedeutung der geläufigen Bezeichnung „Banlieue“, unternimmt sie den Versuch, dieses unsichere Gelände zu erkunden, mit einer Prosa, die zwischen Ich-Erzählung und Essay changiert.

Gewährsmann für die Ich-Erzählerin ist der Filmemacher Thierry, der aus einer algerischen Familie stammt. Er kennt die Codes der Banlieue, weil er hier geboren und aufgewachsen ist und auch immer noch außerhalb des Stadtrings wohnt.

Die Olympischen Spiele in Paris

Die Olympischen Spiele, die in diesem Sommer in Paris auch in der Banlieue stattfinden, sind für ihn ein interessanter Stoff, und für das „Bannmeilen“-Projekt von Anne Weber wirkt er wie eine Idealbesetzung. Er ist so etwas wie ein Bindeglied zwischen der literarisch flirrenden, feinnervigen Autorin und den exotisch anmutenden Zonen außerhalb des bürgerlich-gedämpften Paris, und in gewisser Weise steht er auch zwischen Algerien und Frankreich.

Im Gegensatz zu seinem Vater, der unbedingt ein Franzose sein wollte, wird sich Thierry seines algerischen Hintergrunds zusehends bewusster und stößt ständig, im Sinne des Soziologen Pierre Bourdieu, auf die Unterschiede zwischen seiner Sozialisation und den in einen selbstverständlich-bourgeoisen Habitus hineinwachsenden Arrondissement-Parisern.

Das Buch

Anne Weber: „Bannmeilen. Ein Roman in Streifzügen“. Matthes&Seitz, Berlin 2024. 301 Seiten, 25 Euro

Aber zugleich ist er der Einzige, den die Erzählerin jemals in mündlicher Rede das Passé Simple benutzen hörte, eine formal antiquierte, aber fein differenzierende und sonst nur noch im Schriftlichen anzutreffende Zeitform des Verbs.

Hotspots in der Banlieue

Das übel beleumundete Departement 93 vor den Toren von Paris aber steht für die absolute Gegenwart. Thierry und die Erzählerin treffen sich zu ihren Spaziergängen immer an einer Endhaltestelle der Métro oder der Tram am Périphérique, durchqueren die Autobahnbarrieren und machen sich auf zu diversen Hotspots. Den Startschuss bildet La Courneneuve, wo Thierry seine Kindheit verbrachte.

Die Erzählerin fühlt sich im Departement 93 entre deux ailleurs, also „zwischen zwei Woanders“

Hier stoßen sie vor dem Gitter eines Erdgeschossfensters auf zwei in Plastikfolie verpackte vertrocknete Blumensträuße und ein rotes Schild: Hier geriet 2005 Sid Ahmed, ein unbeteiligter elfjähriger Junge, in einen Schusswechsel, bei dem es ziemlich sicher um Drogen ging, und das war der Anlass für die berüchtigt gewordene Äußerung des damaligen Innenministers Nicolas Sarkozy, er würde nun diese Siedlung „kärchern“. Der Ton Anne Webers ist dagegen betont sachlich, registrierend, interessiert. Es geht ihr um das genaue Hinschauen und um die Befragung der eigenen Sichtweisen.

Mit als erstes verwirren sie die chouffeurs, die Späher, die auf abgewrackten Bürosesseln an Hausecken sitzen. Sie schlagen für die Drogendealer Alarm, wenn die Polizei auftaucht, und zwar in einer Art Kanon. Ein langgezogener Ruf folgt dem nächsten, es hört sich wie ein Klagegesang an, und die Erzählerin nimmt das Vielstimmige, Klangvolle dieser Laute als sehr eigenständig wahr, da, wo man eher etwas Panisches oder Erschrecktes vermuten würde.

Ein ähnlicher Verfremdungseffekt stellt sich ein, wenn sie die Einkaufswagengrills sieht, improvisierte Imbisse, die zum üblichen Alltagsbild gehören. Und auf den Balkonen fallen die schwarzen Plastiktonnen auf, deren Funktion völlig unklar ist. Ursprünglich sind es wohl Gurkenfässer, einmal hat sie so ein Gefäß schon im alten jüdischen Viertel Marais im Zentrum gesehen, wo wirklich Gurken darin angeboten wurden – hier ist das offenkundig anders.

Der Schlachthof unter der Autobahn

Atmosphärisch zentral sind die Schilderungen der Wege zu Fuß, wofür dieses scheinbare Niemandsland offenkundig gar nicht vorgesehen ist: ein unter der Autobahn gelegener Halal-Schlachthof, Großbaumärkte, Reinigungsfirmen, ein Ibis-Hotel neben einer verlassenen Fabrik aus den fünfziger Jahren, kleine Wohnhäuschen, die vergessen und auch nicht mehr bewohnt sind.

Es gibt aber auch als fortschrittlich gedachte Wohnhochhäuser wie die zwei „Camemberts“ in Noisy-le-Grand: zwei jeweils von Hunderten bewohnte Betonräder, die hochkant einander gegenübergestellt sind, Zeugen einer architektonischen Utopie. Polizisten, die ihre Teleskopschlagstöcke ausfahren, drei schwarze Jungs, die urplötzlich auf zwei Polizisten lospreschen, graffitibedeckte Mauern und ein paar Schritte weiter verrammelte Einfamilienhäuschen gehören zu den wie Genrebilder eingestreuten Eindrücken, die die Erzählerin hier festhält.

Aus verschiedenen kleinen Momenten setzt sich langsam ein Bild zusammen, das aber per se nicht zu einem vollständigen werden kann. Zu viele Irritationen schieben sich dazwischen. Es gibt unerwartete Entdeckungen wie die, dass in Bobigny, in der Nähe einer Olympia-Baustelle, an einem der Wohnblöcke mit vor sich hin rostenden Eisenvorhängen plötzlich ein Plastikschild hängt: Hier sei 1959 Asterix geboren, weil sein Erfinder Albert Uderzo damals an dieser Adresse wohnte.

Oder die Geschichte des Goldmedaillengewinners von 1928 im Marathonlauf, Boughéra El Ouafi, dessen Grab auf einem muslimischen Friedhof zwischen „Bauschuttgetöse“ von Zangen- und Löffelbaggern die beiden Vorstadtflaneure besuchen: in Algerien in tiefster Armut aufgewachsen, einen kurzen Moment berühmt, dann wieder in die unterste soziale Schicht abgesunken und 1959 in einem schäbigen Hotelzimmer unter undurchsichtigen Umständen umgebracht.

Zug um Zug enthüllt sich auch einiges von Thierrys Biografie, des glänzenden, sprachbewussten Intellektuellen. Die Erzählerin stößt bei ihren Streifzügen mit ihm auf ein Café, das einzige weit und breit, in dem auch Frauen verkehren, und die beiden fühlen sich vom Wirt Rachid in seiner dezenten, zurückhaltenden Art sofort angezogen.

„Zwischen zwei Woanders“

Die Gäste entsprechen dem sozialen Milieu der Gegend. Anne Weber konturiert sie mit ihren zum Teil bizarren Monologen und Dialogen sehr genau. Wie sich Thierry und der Cafébetreiber langsam über ihre Biografien näherkommen, gehört zu den herausgehobenen Szenen des Buches. Beide fühlen sich „entre deux ailleurs“, also „zwischen zwei Woanders“, sie gehören weder hierhin noch dorthin, und sie zeigen sich als so etwas wie ästhetische Ausdrucksformen dessen, was das Departement 93 ausmacht.

Das kleine Lokal von Rachid ist der Fluchtpunkt dieser Streifzüge durch die Banlieue. Es übersetzt das vertraute Pariser Cafégefühl in die Unmittelbarkeit einer widersprüchlichen Gegenwart. Anne Weber beschönigt nichts, auch nicht in ihren poetischen Sprachbildern, die immer wieder ironisch gebrochen werden.

Einmal kommt den beiden Fußgängern ein junger Schwarzer auf einem E-Roller mit weißen Ear-Pods entgegen, deren Enden „wie zwei dicke Tränen seine Wangen hinunterfließen“. Der Erzählerin fällt ein „kitschiges“, aber „hartnäckiges, aufdringliches Sinnbild“ ein, nämlich: „Schwarzer Mann weint weiße Tränen“. Sie lässt das so stehen, und genau das gehört zur unaufdringlingen, aber nachhaltigen Wirkung dieses Buches.

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