Prozess um Messerattacke von Brokstedt: Attentäter wollte eine Therapie
Ein Ausländerberater des Gefängnisses sagt, der Angeklagte habe um eine Drogentherapie gebeten. Laut Justizbehörde ist das in U-Haft nicht planbar.
Der Ausländerberater führte in der Hamburger Justizvollzugsanstalt Billwerder vier Gespräche mit Ibrahim A., der sich wegen zweifachen Mordes und vierfachen versuchten Mordes verantworten muss. Der staatenlose Palästinenser war erst wenige Tage vor der Tat aus der Untersuchungshaft entlassen worden.
Der Zeuge sagte, die Gespräche im Mai, Juni, September und Dezember 2022 seien völlig normal verlaufen. Ibrahim A. habe die Absicht geäußert, nach der Drogentherapie ein straffreies Leben zu führen, zu arbeiten und eine Familie zu gründen. „Ich habe keinen schlechten Eindruck von ihm gehabt. Er war sehr umgänglich.“ Die Gespräche seien freundlich und angenehm verlaufen. Man habe Deutsch gesprochen. Von psychischen Auffälligkeiten des Angeklagten in der Untersuchungshaft habe er damals gehört, das sei aber in den Gesprächen kein Thema gewesen.
Verteidigung fordert Verlegung in Psychiatrie
Ibrahim A. steht seit Juli 2023 vor Gericht, weil er am 25. Januar 2023 im Regionalzug von Kiel nach Hamburg ein Messer gezogen und auf Fahrgäste eingestochen hat. Der Angeklagte streitet die Taten nicht ab. Zwei junge Menschen starben, vier wurden schwer verletzt.
Die Staatsanwaltschaft hält den Palästinenser für voll schuldfähig. Er habe aus Frustration über einen für ihn erfolglosen Termin bei der Ausländerbehörde in Kiel gehandelt. Die Verteidigung geht dagegen von einer psychischen Erkrankung des Angeklagten aus und fordert seine Verlegung aus der Untersuchungshaft in eine Psychiatrie.
Ibrahim A. befand sich vor der Tat seit Januar 2022 in eben jener Untersuchungshaft. Zwar wurde er im August 2022 unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt, die er auch absaß. Doch laut Justizbehörde war das Urteil nicht rechtskräftig, da er Berufung eingelegt hatte.
Gefragt, warum Ibrahim A. in der JVA Billwerder keine Suchttherapie begonnen hat, erläutert Justizbehördensprecherin Linda Luft, solche Therapien fänden ausschließlich in Krankenhäusern oder in speziellen Suchteinrichtungen statt und dauerten 22 bis 26 Wochen. Reguläre Strafgefangene könnten unter bestimmten Voraussetzungen ihre Strafe zum Zweck einer Therapie zurückstellen oder aussetzen. Und sie könnten in der JVA Billwerder im Wege der Suchtberatung darauf vorbereitet werden. Alternativ könne dies auch „umfassender“ auf der therapievorbereitenden Station der JVA mit ihren 28 Haftplätzen geschehen.
Der Mann erhielt Methadon und Arzt-Adressen
„Im Bezug auf Untersuchungsgefangene besteht keine Möglichkeit, sie unmittelbar in eine Suchttherapie zu entlassen“, sagt Luft. Das liege daran, dass der Entlassungszeitpunkt völlig ungewiss sei und die Therapieplätze in Kliniken termingebunden und nicht beliebig lange freizuhalten seien. Und ohne Platz könne die Kostenübernahme mit der Krankenkasse nicht geklärt werden. Geklärt werden müsste auch der ausländerrechtliche Status. Das könne ein „zusätzliches Hindernis“ bedeuten.
Gleichwohl könnten alle Untersuchungsgefangene die Leistungen der Suchtberatung in Anspruch nehmen, was Ibrahim A. auch getan habe, betont Luft. Er habe die Ersatzdroge Methadon erhalten und bei seiner Entlassung „Angaben zur Dosierung für den weiterbehandelnden Arzt“ und Kontaktdaten von Praxen bekommen. „In Hamburg können auch Menschen ohne festen Wohnsitz und ohne Krankenversicherung substituiert werden“, sagt die Sprecherin.
Gleichwohl hätte man rückblickend mehr für ihn tun müssen. Ibrahim A. war in Billwerder in Folge von Übergriffen in Isolationshaft. Ein Psychiater, der Ibrahim A. im Juli 2022 untersuchte, sagte im NDR, dieser leide an einer Abhängigkeitserkrankung und einer „psychotischen Reaktion im Rahmen der Inhaftierung“.
Der rot-grüne Senat versprach inzwischen mehr Geld, um Hilfen für psychisch kranke Gefangene zu verbessern. Die grüne Justizsenatorin Anna Gallina kündigte zudem „Übergangscoaches“ für Menschen an, die aus der U-Haft in Freiheit entlassen werden, um diese „besser an die Hand“ zu nehmen.
Der Prozess in Itzehoe ist noch bis Ende April terminiert.
mit Material von dpa
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW