Ganggewalt in Haiti: In Haiti übernehmen die Banden
Haitis sonst verfeindete Gangs haben gemeinsam das Nationalgefängnis gestürmt und Gefangene befreit. Nun fordern sie den Rücktritt des Premiers.
Dass dort nicht nur Gangmitglieder einsaßen, sondern auch Kleinkriminelle, die seit Jahren auf ihre Verurteilung warten, zeigt ein Fall, der in haitianischen Medien die Runde macht. Die Polizei, verschreckt durch die Gewalt, mit der die Gangs das Gefängnis stürmten, fackelt normalerweise nicht lange, wenn sie glaubt, einen entflohenen Häftling gefunden zu haben. Sie verhaftete einen alten Mann, der erzählte, er habe zehn Jahre auf seinen Prozess wegen Diebstahls gewartet. Danach ließ sie ihn laufen.
In mehreren Video-Pressekonferenzen verkündete der wohl bekannteste Gangleader, Jimmy Chérizier, ein ehemaliger Polizeioffizier, die bewaffneten Aktionen würden weitergehen, bis der gerade in Kenia weilende Ministerpräsident Ariel Henry gestürzt sei. Er forderte die Polizei auf, Henry bei seiner Rückkehr festzunehmen.
Laut Berichten aus Haiti stehen die vereinigten Gangs, die sich sonst mit unerbittlicher Härte gegenseitig bekämpfen, kurz davor, den Präsidentenpalast einzunehmen und damit eines der wenigen verbliebenen Symbole staatlicher Macht.
Internationale Polizeimission hat noch nicht begonnen
Hintergrund der Eskalation in der seit Jahren sich entfaltenden Ganggewalt sind mehrere Faktoren. In einer Übereinkunft von Herbst 2022 hatte der Interimspräsident Henry zugesichert, seinen Posten am 7. Februar 2024 zur Verfügung zu stellen. Bis dahin sollten Wahlen stattgefunden haben. Aber Henry blieb im Amt – wegen der Sicherheitssituation seien Wahlen nicht durchführbar, argumentierte er. Das führte zu großen Demonstrationen unterschiedlicher politischer und krimineller Akteure.
Im Januar, dem mit 1.100 Opfern tödlichsten Monat seit dem Mord am letzten gewählten Präsidenten, sollte eigentlich eine von der UNO beauftragte Polizeimission beginnen. Angeführt von 1.000 kenianischen Polizisten sollte sie die Gangs bekämpfen. Aber aufgrund eines Gerichtsurteils in Kenia konnte die umstrittene Mission bislang nicht beginnen.
Neben den Gangs versteht auch ein breites politisches Spektrum in Haiti den internationalen Polizeieinsatz als einen Versuch, Henry an der Macht zu halten. Im Februar, zum eigentlich angekündigten Datum der Abdankung Henrys, eskalierten die Kämpfe, die das Ende jeder staatlichen Durchsetzungsgewalt offenbaren.
Die Gangs selbst haben keinen Plan, außer Henry zu stürzen und ihr Geschäftsmodell aus Mord und Entführungen zu erhalten, das manche ziemlich reich gemacht hat. Auch Jimmy Chérizier hat bislang keinerlei Machtanspruch erhoben.
Die Gangs entwickeln eine Eigendynamik
Haitianische Gangs sind gemeinhin mit Politikern verknüpft, die mit ihrer Hilfe ihre politischen und wirtschaftlichen Interessen durchsetzen. Zur Zeit aber gibt es weder ein Parlament noch einen Senat. Das Geschäftsmodell, das Politik auch immer ist, ist also bedroht.
Die Gangs, die Mittel zum Zweck waren, entfalten nun offenkundig eine eigene Dynamik. Sie bereiten den Boden für unerwartet auftauchende Figuren, die auch ein paar administrative Fähigkeiten aufweisen. So versucht sich beispielsweise ein haitianischer Politiker/Geschäftsmann/Drogendealer ins Gespräch zu bringen, der die letzten sechs Jahre in einem US-amerikanischen Gefängnis verbrachte.
Dieser von den USA ausgewiesene Guy Philipp hat es schon in den wenigen Monaten seit seiner Rückkehr vermocht, zeitweise den haitianischen Süden zu blockieren. Als ehemaliger Militär, der maßgeblich am Sturz von Präsident Aristide 2004 beteiligt war, ist er immer noch gut vernetzt. 2014 als Senator gewählt, verhinderten die USA seinen Amtsantritt und damit seine Immunität und stellten ihn wegen Drogengeschäften in den USA vor Gericht.
Auf die Ereignisse in Haiti reagierte die internationale Politik mit Entsetzen. Brasiliens Präsident Lula, der sich gerade in der Karibik zu einem Treffen der Caricom-Staaten (Karibische Gemeinschaft) aufhielt, forderte, dass sofort gehandelt werden müsse. Das Weiße Haus in Washington gab eine Sicherheitswarnung für US-Bürger ab und forderte sie auf, das Land auf welchem Weg auch immer zu verlassen. US-Fluggesellschaften stellten zumindest an diesem Montag ihre Flüge von und nach Haiti ein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen