: Über Ängste und Erwartungen sprechen
Stefanie Towarnicki lebt in einem Mehrgenerationenhaus. Sie hat das Wohnprojekt selbst initiiert. Die Gemeinschaft kann auch deshalb gut miteinander, weil persönliche Befindlichkeiten im Vorfeld geklärt wurden – und weil man sich bis heute miteinander austauscht
Von Lars Klaaßen
„Das Herz des Hauses ist der Gemeinschaftsraum“, betont Stefanie Towarnicki, „auch wenn wir wegen der Coronapandemie in den vergangenen Jahren nur sehr eingeschränkt zusammenkommen konnten.“ Nun treffen sich dort die Bewohner des Wohnprojekts wieder, außerdem finden darin auch Seminare und Kulturveranstaltungen statt. Externe haben die Möglichkeit, den Raum zu mieten. Im Rosenhaus am Seilerweg leben 14 Menschen, zwischen 30 und 81 Jahre alt. Die ehemalige Schule im friesländischen Varel wurde komplett umgebaut, bevor die Mitglieder der generationenübergreifenden Gemeinschaft dort einzogen. Bis es dazu kommen konnte, bedürfte es vieler Gespräche und Vorbereitungsrunden, nicht nur die späteren Bewohner, auch eine Reihe anderer Akteure mussten mit ins Boot geholt werden. Den Anstoß dazu hatte die heute 79-jährige Towarnicki gegeben – und die nötige Ausdauer dafür hat sie ebenfalls mitgebracht. „Über sieben Jahre hat es von der Idee bis zum Einzug im Jahr 2015 gedauert“, berichtet sie und ist auch heute noch glücklich, dass die Idee Realität geworden ist.
Die ehemalige Krankenschwester hatte über ihre damalige Arbeit in Frankfurt am Main bereits Sozialstationen kennengelernt: „Solche gemeinsamen Wohnformen fürs Alter weckten mein persönliches Interesse.“ Als ihre Eltern in Varel pflegebedürftig wurden, zog sie dorthin. Dort entstand dann die Idee, selbst ein Projekt des generationsübergreifenden, gemeinschaftlichen Wohnens fürs eigene Alter zu initiieren. Towarnicki ließ sich im Niedersachsenbüro Neues Wohnen im Alter beraten (das zum Forum Gemeinschaftliches Wohnen gehört, siehe Kasten) und besuchte dort Informationsveranstaltungen. Sie wandte sich an die Agenda Varel und Freiwilligenagentur „Ehrensache“, die erste Anlaufstelle für Projektgruppen und engagierte Menschen im Ort. Außerdem sprach sie die Stadtverwaltung an: „Die ersten am Projekt Interessierten und Vertreter der Kommune trafen sich einmal im Monat im Rathaus, darüber berichtete die Zeitung, was weitere Interessierte zu uns führte.“ Zunächst galt zu klären, welche Vorstellungen die potenziellen Mitglieder über ein gemeinschaftliches Wohnprojekt haben: Welche Schnittmengen gibt es, was würde das kosten, inwieweit kann die Stadt dabei unterstützen? Von den ersten Interessierten ist neben Towarnicki heute noch eine dabei, andere sprangen ab, neue kamen hinzu.
„Der Kreis der Gesprächspartner und Berater wurde im Laufe der weiteren Planung größer“, erinnert sich die Initiatorin. „Dankbar waren wir auch für die Unterstützung einer Anwältin, die uns ehrenamtlich zu rechtlichen und vertraglichen Dingen beraten hat.“ Das Ergebnis: Der Landkreis verkaufte die alte Schule in Varel an die kommunale Wohnungsbau-Gesellschaft Friesland, ein Architekt wurde mit dem Umbau beauftragt. Die neue Wohngemeinschaft gründete einen Verein, der mit der Wohnungsbau-Gesellschaft einen Kooperationsvertrag abschloss. Die Vereinsmitglieder wiederum mieten ihre Wohnungen dort separat. Die Umbaukosten waren zwar beträchtlich, doch die Wohnungen können für 6,50 Euro pro Quadratmeter vermietet werden, weil der Bund das Projekt mit 130.000 Euro gefördert hat. Auch die soziale Wohnraumförderung Niedersachsen hat sich daran beteiligt.
Als bundesweites Netzwerk hat sich bereits 1992 das Forum Gemeinschaftliches Wohnen gegründet. Es hat eine zentrale Geschäftsstelle und 27 Regionalstellen. Der Verein zeigt unter anderem die Vielfalt der Wohnprojekte auf, vor allem für Ältere, und unterstützt Interessierte dabei, die ihnen gemäße Form zu finden. Um die notwendigen Akteurinnen und Akteure zusammenzuführen, besteht ein Schwerpunkt der Aktivitäten im Bildungsbereich und in der Netzwerkbildung. verein.fgw-ev.de
Mit der Plattform WIN – Wissen, Informationen, Netzwerke hat das Forum einen einfachen Zugang zu Beratung und Informationen geschaffen. Dort findet man auch Veranstaltungen und Vernetzungsangebote sowie Wissenswertes rund um das gemeinschaftliche Wohnen und neue Wohnformen. Eine erste Orientierung für die Finanzierungsplanung gibt das Portal ebenso. Hierbei ist die Förderdatenbank ein gutes Werkzeug. win.fgw-ev.de
Seit knapp vier Jahren verbindet die Onlineplattform bring-together Menschen, die gemeinschaftlich Wohnen, Leben und Arbeiten wollen. Dort können Kommunen ihre Leerstände für gemeinschaftliches Wohnen inserieren. Das Unternehmen bietet in seiner „Akademie“ auch Seminare an, in denen man sich für ein Leben in Gemeinschaft fit machen kann. Das Leipziger Start-up hat den World Summit Award Germany 2021 gewonnen. Der WSA prämiert digitale Lösungen, die die Nachhaltigkeitsziele der UNO umzusetzen. www.bring-together.de/de
Speziell über Mehrgenerationenhäuser informiert das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf seinem gleichnamigen Portal. Über eine Suchmaske findet man dort Projekte im gewünschten Postleitzahl-Bereich. Wer wissen möchte, was diese Wohnform charakterisiert, wird hier ebenfalls fündig. www.mehrgenerationenhaeuser.de
„Wichtig war, dass wir uns als künftige Gemeinschaft gut kennenlernen und über grundsätzliche Dinge des künftigen Zusammenlebens einig werden“, sagt Towarnicki. Deshalb haben die Mitglieder des Projekts anderthalb Jahre vor dem Einzug in ihr Haus mit einer Supervision begonnen. Dort wurde vor allem thematisiert, wer welche Befürchtungen und Erwartungen mitbringt: Wie eng will man miteinander wohnen, was miteinander teilen? Die 14 Vereinsmitglieder bewohnen jeweils eine Zweizimmerwohnung, zwischen 40 und 65 Quadratmeter groß. Alle Wohnungen sind barrierearm. Die Gemeinschaft teilt sich zudem eine Gästewohnung, eine Terrasse, Fahrrad- und Geräteschuppen sowie den Waschkeller. Regelmäßige Bewohnertreffen fanden nach dem Einzug zunächst alle zwei Wochen statt, dann monatlich und nun noch im Sechswochentakt. „Der Gesprächsbedarf für Organisatorisches ist immer groß“, so Towarnicki. „Die anfallenden Aufgaben im Haus und im Garten werden besprochen und aufgeteilt.“
Füreinander da zu sein, heißt auch, dass man sich im Krankheitsfall umeinander kümmert. Dann wird geregelt, wer wann zu Besuch vorbeikommt, kocht und einkauft. Im Haus gibt es auch eine für alle zugängliche Notfall-Mappe, in der für jede Person die Ansprechpartner aufgelistet sind: vom zuständigen Arzt bis zu Verwandten, die benachrichtigt werden sollen. Wer einen Pflegedienst benötigt, bestellt diesen wie üblich ins Haus. Doch was, wenn solche Unterstützung nicht mehr ausreicht? „Falls etwa jemand so schwer an Demenz erkrankt, dass der Alltag hier nicht mehr bewältigt werden kann, müssen die Bewohner mit den Angehörigen der betreffenden Person besprechen, was getan werden kann“, sagt Towarnicki. „Wenn von uns mal jemand auszieht, stirbt oder ins Pflegeheim kommt, wird das nicht nur für uns als Einzelne, sondern auch als Gruppe eine große Herausforderung – hierbei werden wir dann vielleicht auch wieder professionelle Unterstützung von außen benötigen.“
Vor Corona kamen die Bewohner noch regelmäßig im Gemeinschaftsraum zusammen, manchmal einfach so, manchmal bei Veranstaltungen, derzeit eher auf der Terrasse oder im Garten. Zweimal im Jahr lud der Verein die Nachbarschaft zur Cafeteria ein. Zu Weihnachten 2021 haben die jüngeren den Baum im Gemeinschaftsraum geschmückt, die Bewohner konnten nur mit Abstand beieinandersitzen. Kaum entspannte sich die Coronasituation, überzog Russland seinen westlichen Nachbarn mit Krieg. Von März bis November 2022 nahm die Gemeinschaft eine ukrainische Familie im Haus auf: Oma, Tochter und den neunjährigen Enkel. Das gemeinschaftliche Wohnprojekt in Varel spannt den Bogen über Generationen wie Nationen.
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