TV-Sender Al Jazeera: Katars Kameras

Al Jazeera prägt die Bilder, die die Welt aus Gaza zu sehen bekommt. Wie unabhängig ist die Berichterstattung des von Katar finanzierten Senders?

Kameras und Handys auf Kriegsszene gerichtet

Leid im medialen Fokus: Al-Jazeera-Korrespondent Wael Al-Dahdouh hat Frau und Kinder verloren Foto: Middle East Images/ABACA/imago

Wenn sich der Hamas-Chef Ismail Haniya in diesen ­Tagen von seinem Exil in Doha an die Welt­öffentlichkeit richtet, taucht sein Gesicht neben dem Logo von Al Jazeera auf. In seinen manchmal bis zu 15-minütigen Reden bezeichnet Haniya die israelische Regierung als „die neuen Nazis“, beschwört die ­Vernichtung des jüdischen Staates herauf und lässt wissen: „Wer sich auf die Seite Israels schlägt, dem droht ­Vergeltung“.

Wie kaum ein anderer Sender prägt Al Jazeera derzeit den Blick auf den Krieg in Nahost. Nach eigenen Angaben und Mediendiensten erreicht der katarische Nachrichtenkanal mehr als 470 Millionen Menschen mit seinen Programmen, vor allem auf Arabisch und Englisch. Die israelische Regierung wirft Al Jazeera vor, mit seiner ungefilterten Berichterstattung die nationale Sicherheit Israels zu gefährden. „Dieser Sender hetzt gegen die Bürger Israels, er filmt unsere Truppen in Versammlungsgebieten außerhalb von Gaza. Er ist ein Propaganda-Sprachrohr“, sagt der israelische Informationsminister Shlomo Karhi, der die gesamte Berichterstattung zum Krieg in seinem Land einschränken möchte, eingeschlossen die liberale israelische Tageszeitung Haaretz.

Wer in diesen Tagen Videos aus Gaza sieht – Menschen, die mit bloßen Händen im Schutt nach ihren Angehörigen graben, verletzte, blutende Kinder, Menschen auf der Flucht – sieht oft Al Jazeeras exklusiven Blick, weil er quasi als einziger Sender aus Gaza berichtet. Me­di­en­ver­tre­te­r*in­nen kommen zur Zeit nur gemeinsam mit dem israelischen Militär nach Gaza. Permanent stationiert sind weitestgehend nur die Mitarbeitenden von Al Jazeera. Redaktionen auf der ganzen Welt nutzen den Sender deswegen als Informationsquelle, zitieren ihn und veröffentlichen seine Bilder. Al Jazeera hat sich im Gegensatz zu anderen Medien schon vor Jahren ein dichtes Netzwerk an Jour­na­lis­t*in­nen und Pro­du­ce­r*in­nen im Gazastreifen aufgebaut. Doch die Al-Jazeera-Reporter*innen sind in diesen Kriegswochen selbst auch Betroffene. So etwa der Reporter Wael al-Dahdouh, dessen Familie Ende Oktober laut Angaben des Senders bei einem israelischen Bombenangriff ums Leben kam. Die Szene, wie er um seinen Sohn live im Fernsehen trauert, verbreitete sich viral, löste eine Empörungswelle in der ganzen Region aus.

Zur Einordnung des Senders in der arabischsprechenden Welt hilft ein Blick zurück: 1996 gründete der damalige Emir von Katar den pan-arabischen Nachrichtenkanal, direkt finanziert aus seinem Staatshaushalt. Eine Medienrevolution. Zum ersten Mal sollte das arabischsprachige Massenpublikum eine alternative Sichtweise angeboten bekommen, die nicht den jeweiligen Regimen in der Region untergeordnet war. 2001 schickte Osama Bin Laden seine Audioaufnahmen aus Afghanistan in die Redaktion in Doha – ein Scoop für den Sender, der als erstes Medium direkten Kontakt zu Bin Laden hatte, was Al Jazeera gleichzeitig die Kritik einbrachte, Terror zu unterstützen. Die Zu­schaue­r*in­nen sahen 2003 live vom Wohnzimmer, wie US-Soldaten Stadt für Stadt im Irak einnahmen, wie Demonstranten die berühmte Statue des Diktators Saddam Hussein in Bagdad zu Sturz brachten. Später berichtete Al Jazeera über die Menschenrechtsverletzungen durch die US-Armee.

Prestigeprojekt und politischer Trotz

Ohne Al Jazeera wären die arabischen Revolutionen nach 2011 anders in die Geschichtsbücher eingegangen. Nicht als Massenprotest im Sinne der Menschenrechte, sondern als niederzuschlagende Gefahr für die Stabilität der Region. Kor­re­spon­den­t*in­nen berichteten live und rund um die Uhr aus Tunis, Kairo oder Aleppo. Der Sender stufte die Proteste gleich als Revolutionen ein, nicht als Krisen, wie viele westliche Medien. Bisher zensierte politische Kräfte kamen zu Wort. Damit wurde der Nachrichtenkanal zum erklärten Feind der Regime in der Region. Katar pumpte weiter Geld in den Sender: als Prestigeprojekt, aus politischem Trotz und weil die unabhängige Berichterstattung von Al Jazeera durchaus im Sinne des Emirats war und weiterhin ist.

„Al Jazeera hat eine arabische Debattenkultur sichtbar gemacht“, sagt Carola Richter. Die Professorin für Internationale Kommunikation an der Freien Universität Berlin forscht seit Jahren zur Rolle des Senders in der arabischen Medienlandschaft. Er sorge im arabischsprachigen Raum für eine Medienvielfalt, die es vorher so nicht gab. Manchmal positionierte sich Al Jazeera aber deutlich, für einige zu deutlich. In den Monaten nach der Revolution 2011 pries der Sender konservative und islamistische Parteien wie die Muslimbruderschaft in Ägypten als politische Alternative an, gab ihrem Imam Yusuf Al-Qaradawi sogar eine Sendung.

Auch im aktuellen Programm zum Krieg kann man eine mangelnde journalistische Distanz zur Hamas sehen. Die Segmente zum Krieg im Programm des Fernsehsenders und der Menü-Punkt auf der arabischen Internetseite aljazeera.net heißt „Sturm des Al-Aqsa“ – der Hamas-Begriff für den Terrorangriff auf Israel. In einer Sendung behauptet ein Moderator, dass man in den Bildern aus Gaza die Auswüchse eines „von Israel gepflegten rassistischen Apartheid-Systems gegen die Palästinenser“ erkennen könne.

Um sich ein umfassenderes Bild zu verschaffen, schauen viele Menschen im arabischsprachigen Raum auch Konkurrenzprogramme wie das arabische Angebot der BBC, lokale Sender oder Al Arabiya. Sie diversifizieren ihre Quellen, denn sie wissen um deren Tendenzen.

Weitestgehend unabhängig

Al Jazeera ist pro-palästinensisch, oft gegen die alten Regime im Nahen Osten und Nordafrika gerichtet, die teilweise eng mit dem Westen kooperieren wie beim Thema Abwehr von Flüchtenden. Der Sender zeigt sich kritisch gegenüber Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, reiche Länder, zu denen Katar in direkter, teils feindseliger Konkurrenz steht. Bei Al Jazeera sucht man vergeblich Berichte zur Rolle des Emirats in der Welt oder zu seiner politischen Nähe zur Hamas. Teile der Hamas-Führung agieren aus dem Exil in Doha. Und Katar unterstützte laut Recherchen mit bis zu 30 Millionen US-Dollar pro Monat Entwicklungshilfe im Gazastreifen.

Dennoch berichten Expert*innen, dass Al Jazeera weitestgehend unabhängig agiert, und auch Carola Richter stimmt dem zu: „Ich würde nicht per se sagen, dass Al Jazeera ein Propaganda-Instrument Katars ist.“

Recherchen von Al Jazeera werden von anderen Medien nicht selten überprüft und übernommen, erfüllen also journalistische Kriterien der Unabhängigkeit, des Quellenschutzes, der Konfrontation der Mächtigen. So sorgt Al Jazeera indirekt dafür, den voreingenommenen westlichen Blick auf den Nahen Osten und Nordafrika mit Fakten zu ergänzen.

Al Jazeeras offizieller Slogan lautet „Die Meinung und die andere Meinung dazu.“ Und tatsächlich nimmt der ­Sender diese Meinungsdarstellung ernst. Die Kassam-Brigaden, eine militärische Hamas-Unterorganisation, drohen mit der Vernichtung Israels und einem „Kampf bis zum Sieg“. ­Parallel dazu zeigt Al Jazeera die Hamas-Aufnahme eines Kassam-Kämpfers, der einen israelischen Panzer mit einer Granate zerstört. Doch auch die andere Kriegspartei bekommt Sendezeit. „Hören wir jetzt, was das israelische Militär zu sagen hat. Es spricht Admiral Daniel Hagari, Sprecher der IDF“, sagt der Moderator nach der weitestgehend ungefilterten Übertragung der Hamas-Perspektive. Für mehrere Minuten spricht der IDF-Sprecher zum ­Publikum.

Journalismus als Außenpolitik

Auf Al Jazeera erklären Sprecher der israelischen Armee, manchmal ex­klusiv, den Einsatz in Gaza. Immer wieder fällt der Satz: „Die Hamas wird vollständig ausgelöscht werden“. Der Sender zeigt Videomaterial des ­israelischen Militärs: Bombardements des Gazastreifens oder Bodentruppen, wie sie im Häuserkampf in Gaza vorrücken.

Zwischen der Meinung und der anderen Meinung? Liegt auch Einordnung. Po­li­tik­wis­sen­schaft­le­r*in­nen analysieren das Gesagte, Po­li­ti­ke­r*in­nen werden mit den Bildern konfrontiert, Angriffe beider Seiten werden rekonstruiert und infrage gestellt.

Dieser Journalismus ist im Sinne der katarischen Außenpolitik. Jeder Bericht über das Leid in Gaza, den Terror in Israel und die martialischen Aussagen der Kriegsparteien unterstreicht die diplomatische Kraft aus Doha. Das geplante Verbot des Senders seitens der israelischen Regierung ist vorerst auf Eis. Sie würden als Affront gegen das Emirat selbst gelesen. Und Katars Vermittlerrolle bei den Verhandlungen zur Freilassung der Geiseln, aber auch im Sinne einer permanenten Lösung des Konflikts, ist zu wichtig für Israel, eigentlich für alle Seiten.

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