Leben nach dem 7. Oktober: Als hätte sich die Welt zersetzt
Für unsere Autorin ist seit dem Massaker der Hamas nichts mehr, wie es war. Sie plädiert für mehr Zuhören, mehr Empathie und Anteilnahme.
A n alle, die ihr euer normales Leben in den vergangenen sieben Wochen weiterleben konntet: Ihr wisst nicht, wie wir, deren Leben seit dem 7. Oktober ein anderes ist, uns fühlen. Ihr wisst nicht, was das für ein Schmerz ist.
Manchmal ist er dumpf und breitet sich betäubend im ganzen Körper aus. Manchmal ist er wie ein fester Schlag in die Magengrube, den man nicht hat kommen sehen. Manchmal sticht er scharf ins Herz. Manchmal macht er ganz benommen, dann wiederum scheint der Kopf zu explodieren. Hinzu kommen Panikattacken, Albträume, Schlaflosigkeit und permanente Schwere. Auf die Dauer zermürbt es. Während euer Leben weitergeht, stecken wir in jenem Samstag fest. Wir versuchen, die Bilder der enthaupteten Babys, der vergewaltigten Frauen und der massakrierten Leichen zu verdrängen, um den Verstand nicht zu verlieren.
Ihr wisst nicht, wie laut euer Schweigen dröhnt. Wie gewaltvoll eure Teilnahmslosigkeit ist. Wie sehr uns das an eine Zeit erinnert, in der eure Großeltern und Urgroßeltern schwiegen oder Schlimmeres. Ihr werdet es niemals wissen. Ein Privileg, das ihr euch weigert anzuerkennen.
Ihr wisst nicht, dass wir, wenn wir unsere Häuser verlassen, nun einen prüfenden Blick an unsere Hauswand werfen, um zu kontrollieren, ob dort ein Davidstern hingeschmiert wurde, der uns markieren und entblößen soll. Ihr wisst nicht, dass wir, wenn wir mit der Bahn fahren oder Einkäufe erledigen, andere Sprachen sprechen, Themen vermeiden, Symbole verdecken.
Ihr wisst nicht, dass wir uns Gedanken machen, wohin wir gehen könnten, euch verlassen, um dann festzustellen, dass wir nirgends hinkönnen, wo wir sicher wären. Wo könnte es sicherer sein als unter den selbsternannten Erinnerungsweltmeistern? Unter denen, die noch vor zwei Jahren unsere fast 2.000-jährige Verankerung auf ihrem, auf eurem Land betonten? Während die Zeitrechnung für das Land, aus dem wir kommen, erst seit 75 Jahren zu existieren scheint. Ihr wisst nicht, dass wir in Trauer sind wegen so vieler Ermordeter.
Ich trauere um alle, die einfach nur ein friedliches und sicheres Leben leben wollten und es nicht haben durften. Ich bin in Sorge um alle, die in Angst sind, ich bin in Sorge um die Zukunft. Ihr wisst nicht, wie es ist, allein dazustehen. Die Freund*innen, Bekannten und Verbündeten plötzlich weg bis auf wenige. Ihr wisst nicht, wie schrill unsere transgenerationalen Traumata aufschreien. Wie unsere Geschichte aus Verfolgung, Gewalt und Mord zur Gegenwart geworden ist und wir es nicht haben kommen sehen. Ihr wisst nicht, wie es sich anfühlt: die Überlagerung des andauernden Kriegs in der Ukraine und des Pogroms vom 7. Oktober. Ihr wisst nicht um diese Zerfaserung. Als hätte sich die Welt in ihre kleinsten Teilchen zersetzt.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Ihr wisst nicht, wie viel Stärke wir von- und miteinander bekommen. Ihr werdet es niemals wissen. Es ist die Resilienz derer, deren Auslöschung wahnhaft gefordert wird. Ihr wisst nicht, wie es ist einen Humor daraus zu entwickeln, über Jahrhunderte perfektioniert: dieser bittersüße Geschmack. Ihr wisst nicht, dass wir dachten, wir wären ein Wir. Natürlich mit unseren Konflikten und noch nicht überwundenen Stereotypen und Ressentiments – aber trotzdem ein Wir.
Nach dem 7. Oktober ist klar: Es gibt ein Wir und ein Ihr. Und da ihr all das nicht wisst, müsst ihr uns zuhören und ernst nehmen. Und wenn ihr es nicht für uns tut, dann tut es für euch, damit eure Kinder und Kindeskinder nicht lernen müssen, dass ihr geschwiegen habt und sich Geschichte wiederholt.
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