starke gefühle
: Die Älteren sind nicht das Problem auf deutschen Straßen – sondern die vielen Aggressiven

Tür zu, Motor an. Die Heizung auf dem Fahrersitz läuft, die anderen Plätze bleiben unbesetzt. Endlich Zeit allein, endlich Zeit, die Musik laut aufzudrehen, mitzusingen und dem Dopamin mit dem Fuß auf dem Gaspedal freien Lauf zu lassen. „Das Auto ist ein emotionaler Schutzraum“, sagt Ulrich Chiellino, Leiter im Bereich Verkehrspolitik beim ADAC. Gefühle können sich darin nahezu frei entfalten, abgeschirmt von anderen Menschen auf den Straßen. Pkws sind der „letzte Ort, an dem eine selbstbezogene Intimität zelebriert werden kann“, schreibt das Frankfurter Zukunftsinstitut.

Diese Feier will Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) niemandem verwehren. Die, die gern mal einen über den Durst trinken, sollen ruhig weiter fahren dürfen – zumindest in der Theorie. Der FDP-Mann setzt auf die Eigenverantwortung der Bür­ge­r:innen, für die beim Autofahren ohnehin das Vernunftgebot gelte, ganz auf Alkohol zu verzichten. Die Promillegrenze weiter zu senken, hält Wissing daher für unnötig, das hat er den Zeitungen der Funke-Mediengruppe gesteckt. Genauso wenig überzeugend findet der Minister den Vorstoß der EU-Kommission, Fahrprüfungen für ältere Menschen einzuführen. Die Kommission betont zwar, dass Alter an sich beim Fahren kein Sicherheitsrisiko darstelle. Dennoch sieht der Entwurf einer neuen europäischen Verkehrsrichtlinie vor, dass Au­to­fah­re­r:in­nen ab 70 alle fünf Jahre ihren Führerschein auffrischen müssen. Wissing sagt, er wehre sich dagegen, „dass sich der Einzelne Zwangsuntersuchungen unterziehen und nach Vorschriftskatalog seinen Alltag gestalten muss“. Es mache die Gesellschaft „unmenschlicher, wenn wir mit dieser Härte durchgreifen“.

Der Verkehrsminister hat Recht, wenn er sagt, dass ein selbstbestimmtes Leben ohne Auto für viele ältere Menschen schwer möglich sei – zum Beispiel, wenn sie auf dem Land leben. Erstens aber gilt das für Menschen jeden Alters: Auch Junge stecken fest, wenn im Dorf kein Bus fährt. Zweitens unterschlägt Wissing, was wirklich unmenschlich ist: der Verkehr selbst, den in Deutschland die Autos beherrschen. Die Aggression auf deutschen Straßen steigt, das belegt eine aktuelle Studie der Unfallforschung der Versicherer (UDV). Die befragten Au­to­fah­re­r:in­nen gestanden deutlich öfter als in den Vorgängerjahren, dass sie schon mal zu eng an Rad­fah­re­r:in­nen vorbeifahren, wenn die Straßenbreite kein Überholen mit Sicherheitsabstand hergibt. Oder dass sie sich Fahrspuren auf der Autobahn lieber mit der Lichthupe freiräumen als abzubremsen.

Das Auto, ein emotionaler Schutzraum, in dem vielleicht mal Euphorie aufkommt. Wahrscheinlicher sind Frust und Wut. Je dichter der Verkehr, desto mehr Aggressionen, sagt der UDV. Au­to­fah­re­r:in­nen haben mit Gefühlen zu kämpfen, die sich kaum ihren Weg durch die Wände des Metallkäfigs bahnen können. Also lassen sie Taten sprechen, Wut entlädt sich in der Lichthupe – oder in noch krasseren Aktionen, die die Unfallgefahr erheblich steigern.

Das Auto ist ein emotionaler Schutzraum, in dem vielleicht mal Euphorie aufkommt. Wahrscheinlicher sind Frust und Wut

Unfälle bauen auch Fahrräder, laut UDV gibt es immer mehr Kollisionen mit Verletzten zwischen Fuß­gän­ge­r:in­nen und Rad­le­r:innen. Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen ist nicht zu rechtfertigen. Überraschend aber ist es nicht, dass auch Fahr­rad­fah­re­r:in­nen eine kürzere Zündschnur haben, wenn ihnen schon wieder ein Auto, das überlegene Fahrzeug, den Weg abschneidet. Und außerdem sind Rad­le­r:in­nen der Aggression der anderen viel direkter ausgesetzt als im Auto. Wenn Volker Wissing also will, dass die Menschen im Straßenverkehr menschlich bleiben, sollte er sich überlegen, wie er mehr Autos von der Straße kriegt. Nanja Boenisch