„Den Leuten ist halt
das Hemd näher als der Rock“

Nicht nur sinkende Umfragewerte offenbaren: Die Grünen haben schon bessere Zeiten erlebt. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann über die Fehler seiner Partei in Sachen Migration und Heizungsgesetz – und welche Lehren sie daraus ziehen sollte

Für eine „Politik mit Augenmaß“: Winfried Kretschmann (rechts im Bild, mit Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck) ist seit 2011 erster und bislang einziger Ministerpräsident der Grünen. Derzeit reagiert er Baden-Württemberg mit einer grün-schwarzen Koalition. Bei der nächsten Wahl 2026 will der heute 75-Jährige nicht mehr antreten Foto: dts/imago

Interview Benno Stieber
und Peter Unfried

taz: Herr Ministerpräsident, Bund und Länder haben sich jüngst auf einen Migrationspakt geeinigt. Sie haben den Vorschlag der CDU-regierten Länder für Asylverfahren in Drittstaaten mit eingebracht. Glauben Sie wirklich daran, dass das human und wirkungsvoll sein kann?

Winfried Kretschmann: Ich halte das nicht für den zentralen Punkt unserer Einigung. Das können Sie ja schon an der Formulierung erkennen. Wir haben einen Prüfauftrag formuliert und klar betont, dass die rechtlichen Standards der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention bindend sind. Für mich steht im Zentrum: Wir haben mit unserem Beschluss einen breiten demokratischen Konsens erreicht und einen ganz wichtigen Schritt zu mehr Ordnung in der Migrationspolitik gemacht.

Werden Ihnen und Habeck die eigenen Leute auf dem Parteitag folgen?

Erstens: Diese Idee ist ja nicht neu, sie ist bereits im Koalitionsvertrag der Ampel formuliert. Die Partei ist dem also bereits gefolgt. Zweitens: Ich habe selbst betont, dass ich mit Blick auf die Umsetzung skeptisch bin, weil sie voraussetzungsreich und hochkomplex ist. Warum kann es trotzdem lohnenswert sein, sich dieser Idee zu öffnen? Wir sprechen von Humanität und Ordnung. Und wenn wir mehr Humanität wollen, müssen wir das Sterben auf dem Mittelmeer beenden. Und wir sollten uns in einer solch schwierigen Situation Ideen nicht von vornherein verschließen.

Falls sich die Partei darüber zerstreitet: Hat es Potenzial, die Grünen wieder zurück in die Nische zu katapultieren?

Wir haben meiner Ansicht nach einen klaren Kurs mit der Zustimmung zur europäischen Einigung GEAS eingeschlagen und mit dem Migrations­paket 2 bestätigt. Das wird jetzt mit dem Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz weitergeführt. Insofern sehe ich uns in der Breite da auf einem guten Weg. Ich habe diesen Kurs im gemeinsamen Gastbeitrag mit Ricarda Lang ja kürzlich auch nochmals skizziert.

In Hessen wird dieser Pragmatismus gerade nicht belohnt. Boris Rhein will mit der SPD regieren.

Ich muss sagen: Dass wir ausgerechnet in Hessen mit einem höchst pragmatisch agierenden Landesverband aus der Regierung fliegen, das ist schon extrem bitter. Und das muss uns als Partei wachrütteln. Der Kurs in der Migrationspolitik ist da ganz entscheidend: Runter von der Bremse bei der Eindämmung der irregulären Migration.

Manche in Ihrer Partei nennen das Abschottung.

Das ist doch Unsinn. Ohne Ordnung herrscht das Recht des Stärkeren. Humanität kann es nur in der Ordnung geben. Asyl heißt: Wer verfolgt wird, kann herkommen. Das heißt aber doch auch: Wer nicht verfolgt wird, kann eben über das Asylrecht nicht kommen, sonst wird das Asylrecht ausgehöhlt. Man braucht doch kein Asylrecht, wenn jeder kommen und bleiben kann, wie er möchte. Wir müssen die irreguläre Migration begrenzen, sonst kommt das Asylrecht unter die Räder. Wenn die Grüne Jugend jetzt von Abschottung redet, kann man nur fragen: Wo leben die denn? Wir haben gerade eine Million ukrainische Flüchtlinge aufgenommen. Das ist das Gegenteil von Abschottung.

Was ist es dann?

Es ist die Voraussetzung, damit die, die wirklich Schutz brauchen, aufgenommen, untergebracht und integriert werden können. Wir sind in einer Überlast. Die Kommunen sind schlichtweg überfordert. Von den Geflüchteten 2015 haben wir etwa 60 Prozent in Arbeit und damit auch 40 Prozent im Sozialsystem. Das heißt, mit jedem Schwung von Geflüchteten bleibt ein Sockel. Es ist klar, dass man irgendwann überlastet ist. Das Asylrecht ist eine wichtige zivilisatorische Errungenschaft. Diese müssen und werden wir erhalten. Außerdem öffnet die Bundesregierung ja jetzt wirklich die Korridore für reguläre Einwanderung. Das klar zu trennen ist zentral, wenn wir die Akzeptanz für Flüchtlinge erhalten wollen. 


Kritiker sagen, alle beschlossenen Maßnahmen bringen nichts, und das zahle dann auch wieder auf das Konto der Rechten ein.

Es geht doch erst mal darum, die Situation anzuerkennen. Und dafür muss meine Partei klären, ob sie überhaupt Begrenzung will. Die, die das nicht wollen, sagen meist, ihr bedient rechte Narrative. Die anderen sagen, es bringt nichts.


Und Sie?

Ich glaube, das sind viele Bausteine, die zusammen was bringen. Es ist richtig, dass es den einen Hebel nicht gibt und wir die großen Fragen nur europäisch lösen können, deshalb ist die GEAS-Reform zum europäischen Asylsystem so zentral. Aber in dieser schwierigen Lage müssen wir bereit sein, auch kleine Hebel zu ziehen. Zum Beispiel die Bezahlkarte statt Bargeld. Das ist keine Abkehr von der Humanität. Aber wir reduzieren den Anreiz für irreguläre Migration. Wenn wir nichts tun in dieser Frage, dann entsteht der Eindruck, der Staat ist handlungsunfähig. Das ist die allergefährlichste Botschaft überhaupt! Das treibt die Menschen zu den Rechten.

Die Umfragewerte Ihrer Partei gehen im Bund wie in Baden-Württemberg zurück. Sehen die Wähler die Grünen als Schönwetterpartei, die man nicht mehr wählt, wenn es ernst wird?

Das könnte man meinen, aber es ist doch erstaunlich; denn wir haben als Partei in den letzten Monaten Enormes geleistet: Wenn man sieht, mit welcher Wucht die Außenministerin in der Ukrainekrise agiert hat – als Partei, die aus der Friedensbewegung entstanden ist – und Robert Habeck in der Energiekrise Gas in Katar gekauft und LNG-Terminals gebaut. Beide haben höchst entschlossen und klar agiert, und wir sind gut über den Winter gekommen. Das widerspricht dieser These. Aber es scheint trotzdem so zu sein.


Wie kann Ihre Partei Vertrauen zurückgewinnen?

Wir müssen Lehren aus den letzten Monaten ziehen und zeigen, dass wir Politik mit Augenmaß und Pragmatismus machen können. In der Klimapolitik müssen wir klar in den Zielen, aber offen in den Wegen sein. Da nutzt es nichts, wenn man sagt: Die Wissenschaft sagt uns aber, das ist ganz dringlich.

Warum nicht? Ist das für die Leute schon zu komplex?

Den Leuten ist halt das Hemd näher als der Rock, das ist evolutionäre Prägung. Die Leute haben weniger Angst vor der nächsten Flutkatastrophe als vor der Finanzierung der nächsten Heizung. Deshalb ist der Satz „Wir müssen die Menschen mitnehmen“ eben keine leere Floskel.

Was hat die Grünen genau zurückgeworfen?

Ich fang andersrum an: Wir waren immer dann stark, wenn wir uns als Partei erkennbar was zugemutet haben – vom Kosovokrieg bis zum Kohlekompromiss. Beim Heizungsgesetz hat sich das umgekehrt. Da ist bei vielen am Anfang das Gefühl entstanden: Es wird über uns hinweg entschieden. Man verliert dann erst mal Vertrauen. Das sieht man an den Kompetenzzuschreibungen, sogar bei der Klima­politik.

Hätte man beim Gebäudeenergiegesetz mehr aufs Volk hören müssen?

Ja. Das ist ja jetzt auch bei allen angekommen. Von der Anlage her kommt bei uns Grünen oft auch ein Moment großer Staatsgläubigkeit dazu. Aber wir leben in einer sozialen Markt­wirtschaft. Kein staatliches Konzept kann so innovativ sein wie ein Markt, in dem Tausende von Menschen Ideen haben. Da braucht man eher Preis­signale, um das zu lenken. Es geht darum, dass wir ein kopierfähiges Modell von klimafreundlichem Wohlstand und erfolgreichem nachhaltigem Wirtschaften entwickeln, das andere Länder übernehmen, weil sie sehen, dass es funktioniert.

„In der Klimapolitik klar in den Zielen, aber offen in den Wegen sein“

Sie haben sich in der Unterstützung von Wirtschaftsminister Habeck beim Heizungsstreit sehr zurückgehalten.

Entscheidend war die Korrektur, die er gemacht hat, die verbindliche Wärmeplanung der Kommunen: Das haben wir in Baden-Württemberg schon sehr früh auf den Weg gebracht. Dabei ist es nicht so, dass wir den Menschen in Baden-Württemberg nicht auch Ordnungspolitik zumuten. Wir haben im ersten Schritt eine Photovoltaikpflicht für Nichtwohngebäude eingeführt und im zweiten Schritt für Wohnneubauten und für Bestandsgebäude bei grundlegenden Dachsanierungen. Es gab da nur ein leises Grummeln, aber keinen Protest, weil es ein klar umgrenzter Eingriff ist mit überschaubaren Kosten. Wir haben seitdem einen steilen Anstieg an Photovoltaik.

Die grüne Sprechformel lautet neuerdings, man habe jetzt so viel in so kurzer Zeit gemacht, man müsse das – Zitat Habeck – „einwirken lassen“. Ist das nur eine Umschreibung für Kapitulation?

Sehe ich nicht so. Politik ist die Kunst des Möglichen. Es ist also sehr weise, das anzuerkennen. Ich glaube, dass wir den Leuten zurzeit offensichtlich auf die Nerven gehen. Die Leute haben das Gefühl, wir sagen ihnen, wie sie heizen sollen, wie sie sich fortbewegen sollen, wie sie essen sollen, und wir sagen ihnen zum Schluss sogar, wie sie reden dürfen und wie nicht.

Das Narrativ der Grünengegner.

Ja und das geht den Leuten einfach auf den Zeiger. Darum bin ich ganz der Meinung von Robert Habeck: Wichtige Dinge haben wir jetzt klima­politisch eingeleitet, und entscheidend ist, dass wir uns nicht im Klein-Klein verzetteln, sondern die Dinge kraftvoll an­packen, die richtig viel bringen. Ob wir jetzt innerdeutsch fliegen oder nicht, ist ­größenordnungsmäßig einfach ir­relevant. Wir müssen Wind­räder bauen, wir müssen Photovoltaik auf die ­Dächer bringen, wir müssen schnell aus der Kohlekraft aussteigen, und wir müssen grüne Technologie massiv ­vorantreiben, die Produktion res­sourcen- und energieeffizienter hinkriegen.