Der Herbst, die Stadt und der Müll: Die Pappe als Problemfall

Am Altpapiercontainer kann man oft ins Grübeln geraten über die Gesellschaft. Aber noch ist Hoffnung: Die meisten Leute falten ihre Kartons.

Ein überfüllter Müllcontainer für Papier und Pappe

Passt schon irgendwie, oder? Foto: Peter Kneffel/picture alliance/dpa

Meine Stimmung ist nicht gut, das liegt an den Nachrichten, aber ich habe deswegen auch ein schlechtes Gewissen, denn was bedeutet es schon, sich wegen der Nachrichten schlecht zu fühlen, die vor allen Dingen Menschen betreffen, denen es deshalb schlecht geht, weil die Nachrichten von ihnen selbst handeln? Also sage ich mir, Katrin, reiß dich zusammen und heule nicht rum! Diese Menschen wären froh, wenn sie ein Leben wie deines führen könnten, ein Leben, das vor allem durch Nachrichten beschwert ist. Und deshalb sehe ich es als Aufgabe, dem Leben etwas abzugewinnen.

In den Nächten regnet es, am Morgen sind die Straßen nass und voller gelber Blätter, die Bäume im Innenhof werden immer nackter, ich schalte die Heizung an. Ein Teil von mir fühlt sich tatsächlich gemütlich.

Als ich das Altpapier in den Hof bringe, steckt ein großer Karton in der Öffnung des Containers. Mit einer Ecke wurde er hinein­gedrückt, der Großteil guckt noch raus.

Auf dem Karton steht die Adresse einer Jessica X. Ich halte diesen Karton dieser Jessica, die offensichtlich ihr Zeug bei diesem großen A bestellt, in der Hand und schnaube. Was stimmt mit ihr nicht?

Ich halte den Karton in der Hand und überlege, ihn ihr vor die Tür zu stellen. Ich überlege, bei ihr zu klingeln und ihr diesen Karton persönlich zu überreichen. Was hat sie sich gedacht: Dass der nächste Mensch, also ich, dieses Problem lösen soll? Dass es schon okay ist, ihre Müllprobleme auf andere Menschen abzuwälzen? Dass sie auf uns, auf mich einfach scheißen kann?

Vor allem an sich denken

Natürlich klingele ich nicht bei dieser Jessica. Ich zerlege den Karton, falte ihn zusammen und stecke ihn durch die Öffnung. Ich lebe in einer Großstadt. Regelmäßig liegen auch fleckige Matratzen vor den Müllcontainern, leere Flaschen, Sperrmüll. Irgendetwas hat diese Leute gelehrt, auf andere, auf mich zu scheißen. Irgendetwas hat sie gelehrt, vor allem an sich zu denken. Man kann nicht jedes Mal Herzrasen deswegen bekommen, das ist nicht gesund.

An Halloween gab es in Hamburg, in diesen sogenannten „sozialen Brennpunkten“, mal wieder ein bisschen Randale. Junge Männer brüllten rum, spielten sich auf, machten was kaputt. Im NDR wurde dazu der Polizeiwissenschaftler Rafael Behr interviewt. Er sagte, es wäre eine Möglichkeit für diese Menschen, sich als „selbstwirksam“ erfahren zu können, vielleicht ihre einzige. Ein junger Mann drückte es im Interview einfacher aus: „Die Leute denken, (…), das ist mein Verdienst, ich kann zeigen: Ja, guck, siehst du das? Das war ich.“

Vielleicht wird in diesen beiden Geschichten eine Überzeugung sichtbar: Die Gesellschaft ist keine Gemeinschaft. Und wenn, dann gehöre ich nicht dazu.

Dass sich diese Art von Trotz vor allem gegen­ sie selbst richtet, dass sie das Leben in ihrer eigenen Hood beschädigen, ist tragisch, es ist, im Grunde, eine Form von Selbstverletzung. Nur von diesem theoretischen Überbau herabblickend kann ich auch mit Jessica nachsichtig sein. Weil sie rücksichtslos ist, ist sie einsam, oder weil sie einsam ist, ist sie rücksichtslos?

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Wir leben in einem großen, kapitalistischen Märchen, das uns erzählt, dass der Held sich über alle Regeln hinwegsetzen muss, dass Erfolg hat, wer nur auf sich selbst hört, dass die Erfolgreiche ein Solitär ist. Das ist ein Fehler und eine Lüge. Erfolg muss anders definiert werden, in seinen Auswirkungen auf die Gemeinschaft. Und ich habe noch Hoffnung. Die meisten Leute falten ihre Kartons.

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