Dieser Platz ist besetzt

Stadt heißt Blech. Überall stehen Autos an den Straßen herum. Dass dieser Flächenfraß überhaupt erlaubt ist, verdanken die Städte dem Bremer Laternenparker-Urteil

Von Ingwar Perowanowitsch,
Fotos Jens Gyarmaty

Unsere Städte sind vollgestopft mit Autos. Ganze Straßenzüge sind vom sogenannten ruhenden Verkehr besetzt. Es scheint, als gehöre das Auto zur Stadt wie Möbel zur Wohnung.

Das Prinzip Seit Oktober 2020 haben die Bundesländer die Gebührenhoheit beim Anwohnerparken, die bis dahin geltende bundesweite Obergrenze für Bewohnerparkausweise von 30,70 Euro pro Jahr wurde damit abgeschafft. Seitdem können die Länder oder – wenn es ihnen von ihren Ländern freigestellt wird – die Kommunen die Gebühren festlegen. Diese machen in sehr unterschiedlicher Weise davon Gebrauch.

Die großen Städte Hamburg verlangt eine Jahresgebühr von 70 Euro. Weil die Stadt einen Ruf als smart city zu verteidigen hat, gibt der Senat 5 Euro Rabatt, wenn der Ausweis online beantragt und selbst ausgedruckt wird. In München zahlt man für die 10 bis 15 Quadratmeter große Fläche, die ein parkendes Auto so braucht, 30 Euro. In Berlin ist das Draußenparken – ganz im Gegenteil zu den Mieten in der Stadt – immer noch schnäppchengleich billig: hier kostet es 10,20 Euro pro Jahr.

Preise in Bewegung Nicht überall gelten solche Dumpingangebote. In Ulm zahlt man 200 Euro, 2024 sollen es 300 Euro sein. Was da in Bewegung kommt, ist auch zum Beispiel in Münster zu sehen. Dort kostete der Ausweis bis Ende Juni 17 Euro. Seit 1. Juli sind 130 bis 190 Euro im Jahr fällig, ab Juli 2024 sollen es dann gestaffelt nach Länge des Autos 260 bis 380 Euro sein.

Doch das war nicht immer so. Es gab Zeiten in Deutschland, da war das Parken im öffentlichen Raum die Ausnahme und nicht die Regel. Zeiten, in denen die Zulassung für ein Auto explizit an den Besitz eines privaten Stellplatzes gekoppelt war. Was heute wie eine radikale Idee erscheint, war bis in die 1960er Jahre in Deutschland geltendes Recht. Erst ein bahnbrechendes Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 1966 legalisierte das heute gängige Parken am Straßenrand und gewährte dem Auto ein Privileg, das bis heute unvermindert besteht.

Was war geschehen? Im Jahr 1957 entschloss sich ein Kaufmann aus Bremen, seinen Lieferwagen über Nacht einfach in der Nähe seiner Wohnung am Straßenrand abzustellen und nicht, wie es das damalige Gesetz verlangte, auf einem privaten Stellplatz. Schnell merkte das Bremer Ordnungsamt, dass hier ein Gesetzesverstoß vorlag und untersagte dem Fahrer auf Androhung eines Bußgelds das Parken auf der Straße. Doch der Falschparker zeigte sich uneinsichtig und parkte erneut am Straßenrand. Nach einer weiteren Abmahnung zog der Kaufmann vor Gericht und zettelte einen Rechtsstreit an, der über neun Jahre anhielt und vom Bundesverwaltungsgericht entschieden werden musste.

Der Rechtsstreit drehte sich im Kern um eine Frage: Fällt das dauerhafte Abstellen eines privaten Autos im öffentlichen Raum unter den sogenannten Gemeingebrauch oder nicht? Der Rechtsbegriff „Gemeingebrauch“ garantiert allen Menschen einen gleichen und kostenfreien Zugang zu öffentlichen Flächen wie Straßen oder Stadtparks. Das Prinzip: Jeder, der nicht gegen den Zweck des Gemeingebrauchs handelt, darf die öffentlichen Flächen nutzen.

Das Parken regelte lange die Reichs­garagen­ordnung von 1944, die besagte, dass Au­to­­be­sit­­ze­r ihre Fahrzeuge nur auf privaten Stellplätzen parken durften

Verstößt ein parkendes Auto also gegen den Zweck des Gemeinguts Straße? Bis 1966 beantwortete die deutsche Gesetzgebung diese Frage mit Ja.

Laut Straßenverkehrsordnung waren Straßen dem fließenden Verkehr vorbehalten und das Parken nur zum kurzen Be- und Entladen oder zum Ein- und Aussteigen erlaubt. Das längere Parken regelte weiterhin die Reichsgaragenordnung von 1944, die besagte, dass Au­to­be­sit­ze­r:in­nen ihre Fahrzeuge nur auf privaten Stellplätzen parken durften. Doch mit der rasanten Motorisierung nach dem Zweiten Weltkrieg war diese Anforderung immer schwerer einzuhalten. Die Anzahl an Autos übertraf die der privaten Stellplätze, sodass frischgebackene Au­to­be­sit­ze­r:in­nen notgedrungen damit begannen, ihre Autos einfach am Straßenrand abzustellen. Vielerorts wurde dies von den Kommunen geduldet, auch wenn es streng genommen einen Verstoß gegen die geltende Rechtslage bedeutete.

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Als das Bundesverwaltungsgericht nun mit dem Fall des Bremer Kaufmanns betraut wurde, sollte es die Frage klären, ob Parken Gemeingebrauch sei oder nicht. Im Urteilsspruch vom 4. März 1966 heißt es im Wortlaut: „In einer stürmischen Entwicklung seit Anfang der fünfziger Jahre ist das Automobil in der Bundesrepublik (…) zu einem Gebrauchsgegenstand aller Bevölkerungskreise geworden. Diese Entwicklung hat der Staat nicht nur geduldet, sondern gefördert.“ Angesichts des Staatsziels, die Motorisierung der Bevölkerung zu fördern, und der bereits gängigen Praxis des sogenannten Laternenparkens kamen Deutschlands oberste Ver­wal­tungs­rich­te­r:in­nen am 4. März 1966 zu folgendem Schluss: „Damit erweist sich das Abstellen von Kraftfahrzeugen über Nacht sowie an Sonn- und Feiertagen an öffentlichen Straßen als grundsätzlich den Verkehrsbedürfnissen entsprechend und damit als grundsätzlich verkehrsüblich und gemeinverträglich.“

Kaum ein richterlicher Urteilsspruch sollte für die Städte in den kommenden Jahrzehnten folgenreicher sein als das „Bremer Laternenparker-Urteil“. Mit der Billigung des dauerhaften Abstellens von Fahrzeugen am Straßenrand wurde dem Auto ein Privileg eingeräumt, das unser Stadtbild revolutionierte und sich tief in der deutschen Rechtsprechung verankert hat. Seit 1966 gilt: Das Parken ist überall im öffentlichen Raum erlaubt, und wer das Parken einschränken will, braucht dafür gute Gründe. Die Beweislast liegt also bei der Gemeinde und nicht bei den Autobesitzer:innen. Mit dieser Rechtslage sehen sich alle Kommunen, die regulierend in den Parkraum eingreifen möchten, bis heute konfrontiert.

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Doch ist ein 57 Jahre altes Urteil überhaupt noch zeitgemäß oder bedarf es angesichts der ökologischen Herausforderungen, vor der unsere Städte stehen, einer Korrektur?

Mit dieser Frage beschäftigt sich der Verkehrssoziologe Andreas Knie. „Dieses Urteil ist völlig aus der Zeit gefallen“, so Knie. „Von einem Staatsziel der Massenmotorisierung kann längst keine Rede mehr sein.“ Vielmehr sei angesichts des Pariser Klimaabkommens und des Klima-Urteils des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2021 der Klimaschutz zum neuen wichtigen Staatsziel aufgestiegen.

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Diese Argumentation könnte Grundlage für einen brisanten Präzedenzfall sein. Man stelle sich vor, so Andreas Knie, An­woh­ne­r:in­nen würden durch das Aufstellen von Sofas, Stühlen oder Tischen auf Parkplätzen die „kontrollierte Grenzüberschreitung“ wagen und die zu erwartende Ordnungswidrigkeit durch alle Instanzen anfechten. Die Gerichte wären plötzlich mit der Fragestellung konfrontiert, ob in Zeiten der Klimakrise die Definition des Autos als „Gemeingebrauch“ noch Gültigkeit besitzt und ob sie im Sinne des Staatsziels Klimaschutz neu gedeutet werden muss. Tatsächlich wies das Bundesverwaltungsgericht bereits 1966 in seinem „Laternenparker- Urteil“ auf die wandelbare Natur des Begriffs „Gemeingebrauch“ hin und dass sich eine klare Definition nicht ein für alle Mal festlegen lasse. Die Zurückdrängung des Autos aus dem öffentlichen Raum könnte neben dem Klimaschutz auch mit den veränderten Verkehrsbedingungen begründet werden.

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In Großstädten wie Berlin verliert das Auto zunehmend an Bedeutung und wird nur noch für etwa ein Viertel der Wege benutzt. Gleichzeitig stehen dem Autoverkehr in der Hauptstadt rund 70 Prozent aller Flächen zur Verfügung. Allein aus Sicht der Flächengerechtigkeit gehörten dem Auto deswegen seine Privilegien entzogen, so Professor Knie.

Doch was würde geschehen, wenn Gerichte den Argumenten aktivistischer An­woh­ne­r:in­nen folgen und dem Auto das Privileg des Gemeingebrauchs entziehen würden? Au­to­be­sit­ze­r:in­nen müssten sich von nun an einen privaten Stellplatz auf eigenem Grund oder in Parkhäusern suchen. Die Straßen würden vom stehenden Blech befreit und böten Platz für Grünflächen, Spielplätze oder die Gastronomie. Es würde eine Revolution unseres Stadtbilds bedeuten.

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Was in Deutschland noch wie eine ferne Utopie klingt, ist in asiatischen Großstädten längst Realität. In Tokio, Hongkong oder Singapur ist die Zulassung eines Autos seit jeher an den Besitz eines Stellplatzes gebunden. Während der Anwohnerparkausweis in Berlin 10,20 Euro pro Jahr kostet, zahlt man in der japanischen Hauptstadt für einen privaten Stellplatz je nach Lage zwischen 63 bis 381 Euro im Monat. Etwas weniger radikal ist die Schweiz. Hier wurde die Beweislast umgekehrt: Im ganzen Land ist das Parken im öffentlichen Verkehrsraum grundsätzlich verboten, es sei denn, es ist explizit erlaubt.

Kann die Judikative, die die autogerechte Rechtsprechung in den letzten Jahrzehnten mitgeschaffen und verteidigt hat, wirklich als Helferin der Verkehrswende dienen? „Juristischen Aktivismus“ nennt man es, wenn Rich­te­r:in­nen mit Grundsatzentscheidungen Politik machen. Das historische Klima-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in dem die Regierung aufgefordert wurde, auch die Freiheitsrechte zukünftiger Generationen zu schützen, ist das beste Beispiel, wie Rich­te­r:in­nen auf den Lauf der Geschichte einwirken und ethische Grundsatzfragen in eine bestimmte Richtung lenken. Vielleicht braucht es daher auch bei der Verkehrswende aktivistische Richter:innen, die veränderte Verhältnisse anerkennen und alte Urteile revidieren, damit der Rechtsweg für die Verkehrswende geebnet werden kann.