Antisemitismus in Frankreich: Französische Juden unter Schock
Judenfeindliche Drohungen haben in Frankreich nach dem 7. Oktober sprunghaft zugenommen. Jüdische Schulen erhielten E-Mails mit Bombendrohungen.
Hinzu komme eine für ihn erschreckende Gleichgültigkeit angesichts der Vervielfachung antisemitischer Äußerungen und Drohungen. Das war für ihn ein zusätzlicher, dritter Schock.
„Wir fühlen uns sehr alleine“, sagt auch Michel Serfaty, der Rabbiner des Pariser Vororts Ris-Orangis, der Zeitung Le Parisien. Die jüdische Gemeinde fühle sich im Stich gelassen. „Wo bleiben die großen Solidaritätskundgebungen?“, fragt er.
Seit dem 7. Oktober haben antisemitische Aggressionen und Bedrohungen in Frankreich, wo die größte jüdische Gemeinde Europas lebt, sprunghaft zugenommen. Innenminister Gérald Darmanin spricht von mehr als 800 registrierten Vorfällen, nennt aber keinerlei Details. Laut Justizminister sind mehr als 400 Personen festgenommen und mehrere bereits gerichtlich verurteilt worden.
Mordaufrufe und Davidsterne
Die Internet-Aufsichtsstelle Pharos hatte schon bis Ende Oktober 5.300 Hinweise auf antisemitische Beschimpfungen und Drohungen erhalten. Es geht um eine Häufung sehr beängstigender konkreter Vorfälle: Mehrere jüdische Schulen in der Hauptstadtregion erhielten E-Mails mit ernstzunehmenden Bombendrohungen, die mit „Al-Qaïda bomb“ und „Allahu Akbar“ unterzeichnet waren. Drei Schulen mussten deswegen vorübergehend evakuiert werden.
Auf eine Mauer des Sportstadions von Carcassonne in Südfrankreich wurde direkt nach dem 7. Oktober geschmiert: „Tuer les Juifs est un devoir“ (Juden töten ist Pflicht), auch Fassaden jüdischer Geschäfte wurden von antisemitischen Sprayern beschmiert.
In den letzten Tagen sind nicht nur in nördlichen Vorstädten, sondern auch im 14. Pariser Arrondissement Davidsterne an Häusern mit jüdischen Bewohnern aufgetaucht. Es wurde dazu offenbar eine identische Schablone und die gleiche blaue Farbe verwendet. Soll das wie schon im Frankreich der 30er Jahre oder in Nazi-Deutschland Opfer markieren?
Justizminister Éric Dupond-Moretti möchte die Verantwortung einem Teil der politischen Linken zuschieben, weil diese für „Konfusion“ sorge: „Ich habe etwas Mühe zu verstehen, warum (die Partei) La France insoumise es nicht schafft, die Hamas als terroristische Bewegung zu bezeichnen. Es gilt, Klarheit zu schaffen. Es sind nicht die Muslime, die auf die Juden spucken, sondern die Islamisten. Man kann für die palästinensische Sache und einen palästinensischen Staat eintreten, aber man kann nicht hinnehmen, dass der wachsende Kommunitarismus (die Abschottung in Gemeinschaften; Anm. d. Red.) in unserem Land diesen Antisemitismus fördert. Laizität bedeutet, dass jeder seine Religion frei ausüben kann, ohne deswegen angegriffen oder beschimpft zu werden“, erklärte der Minister in der Tribune du Dimanche.
Er versprach, als abschreckende Präventionsmaßnahme die Öffentlichkeit über Verurteilungen antisemitischer Straftaten zu informieren.
„Antisemitismus im Alltag“
Als „Antisemitismus im Alltag“ bezeichnet Samuel Lejoyeux, der Vorsitzende der Union des étudiants juifs de France (UEJF), eine Vielzahl ihm gemeldeter Vorfälle, über die er im Kurznachrichtendienst X berichtet.
In der Pariser Universität Tolbiac etwa wurde auf eine Toilettentür „Mort aux Juifs“ (Tod den Juden) geschmiert. Bei einem betagten jüdischen Ehepaar in Paris wurde die Wohnungstür in Brand gesteckt. Und Lejoyeux selbst sei nach einer kurzen Diskussion über den Nahostkonflikt von einem Taxifahrer kurzerhand aus dem Auto geworfen worden.
Das alles schaffe für ihn ein Gefühl, „nirgends mehr ungefährdet zu sein“. In einem Interview sagte er, der Antisemitismus sei in der gesamten französischen Gesellschaft und keineswegs nur in der muslimischen Bevölkerung verbreitet. Scharf kritisiert er Politiker, namentlich den Gründer von La France insoumise (LFI), Jean-Luc Mélenchon, oder auch den Rechtsaußen Eric Zemmour, die den Konflikt „instrumentalisieren“ und „Juden und Muslime gegeneinander hochschaukeln“ wollten. Das Zusammenleben stehe dabei auf dem Spiel.
Wegen der wachsenden Spannung zwischen Bevölkerungsteilen, die den Nahost-Konflikt importieren, sorgt sich auch die Rabbinerin und Autorin Delphine Horvilleur um die Menschlichkeit, oder was davon noch bleibt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen