Neuer Roman von Terézia Mora: Jenseits der eigenen Identität

Terézia Mora beherrscht die Kunst des gezielten Weglassens. „Muna oder Die Hälfte des Lebens“ erzählt von einer großen, toxischen Liebe.

Porträt der Autorin Terézia Mora

Wird es der zweite Buchpreis für Terézia Mora? Foto: Friedrich Bungert/SZ Photo/picture alliance

Alles beginnt schon mit einer Katastrophe. Die alkoholkranke Mutter von Muna Appelius, Erzählerin in Terézia Moras neuem Roman „Muna oder Die Hälfte des Lebens“, wird mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren; sie hatte versucht, sich mit Tabletten das Leben zu nehmen. Und als sei das alles nicht schon schlimm genug, hat wieder jemand, und es muss jemand aus dem Haus gewesen sein, die Reifen ihres Fahrrads durchstochen.

Der Krankenwagen will sie nicht mitnehmen und sie muss ihm zu Fuß hinterherlaufen. „Ihr miesen Arschlöcher“, schreit Muna in den Hinterhof, und die Nachbarin, die sie vorher noch so nett bedauert hatte, sagt, „eine junge Dame schreit doch nicht so laut“. Aber ihr ist das egal. Sie will hier nur weg, weg aus der provinziellen Enge von Jüris, einer fiktiven Kleinstadt in der DDR, kurz vor dem Mauerfall. Aber sie ist erst 18 und geht noch zur Schule.

Als ersten Schritt zu Unabhängigkeit und Freiheit fängt sie ein Praktikum bei der örtlichen Zeitung an. Nach sechs Wochen Kaffee kochen und am Ende einem Einspalter wechselt sie zum Magazin. Dessen Redaktion besteht aus drei älteren Herren, von denen sich der Chefredakteur feminin kleidet und Lippenstift trägt. Als ein freier Mitarbeiter, ein Lehrer mit Namen Magnus Otto, in der Redaktion auftaucht, ist es um Muna geschehen. „Ich sah“, sagt sie, „den schönsten Mann, den ich je im Leben sehen würde.“

Bei ihrem Ziel, ihn ins Bett zu kriegen, hilft ihr, dass sie jung, schön und sexy ist. Eine ihr durchaus bekannte Tatsache, die aber nicht immer von Vorteil war. So musste sie schon früh die sexistischen Witze und Übergriffe von Männern ertragen. Es sind immer nur wenige, aber wirkungsvolle Stellen, an denen Terézia Mora ihre Erzählerin deutlich werden lässt. Meist deutet sie die Dinge nur an, schickt damit allerdings die Vorstellung des Lesers in eine bestimmte Richtung.

Auch der Sog, den der Roman entwickelt, basiert auf dieser Kunst des gezielten Erwähnens und Weglassens. Der prekäre Ausgangspunkt von Munas Erzählung ist mit dem Selbstmordversuch ihrer alkoholkranken, als Schauspielerin am Stadttheater Jüris arbeitenden Mutter gesetzt. Munas Vater ist früh gestorben.

Der Abgrund rückt näher

Dann, als kurz vor dem Mauerfall Magnus von einem Tag auf den anderen verschwindet, rückt für Muna der Abgrund wieder näher. Im Laufe des Romans nähert sie sich ihm mal mehr, mal weniger, aber er bleibt immer präsent. Und hält damit für den Leser die Frage aufrecht, wie das alles enden soll.

Nach Abitur und Mauerfall zieht Muna nach Berlin. Sie beginnt zu studieren, geht nach Wien, wo sie in einem Kreis von Literaturwissenschaftlerinnen einen Job in einem feministischen Verlag bekommt. Außerdem arbeitet sie an einer Doktorarbeit. Ihre Beziehungen zu Männern, stellt sie fest, dienen ihr nur als Ablenkung davon, an Magnus zu denken.

Jahrelang sucht sie nach ihm. Als er dann plötzlich in Berlin als Dozent an der Uni wieder auftaucht, hat sie bereits den Job in Wien. Wieder auf ihre Initiative hin beginnen sie eine Beziehung und pendeln zwischen Wien und Berlin hin und her. Doch Magnus macht sich immer wieder rar, was Muna in Ausbrüche von Eifersucht treibt, bei denen sie die gemeinsame Wohnung zerlegt. Aber auch er kann sich nicht von ihr trennen und wird, um sie zu beruhigen, handgreiflich.

Eine geplante Trilogie

„Muna oder Die Hälfte des Lebens“ ist „Die weibliche Variante“, wie Terézia Mora im Untertitel schreibt. Und es ist der erste Band einer geplanten zweiten Trilogie. Ihre erste Ro­man­trilogie hatte sie aus einer männlichen Perspektive geschrieben, des IT-Fachmanns Darius Kopp.

Auch hier ging es um eine große Liebe. Und es zeigte sich, dass gute Literatur den Horizont des Lesers jenseits der eigenen Identität öffnen kann, ohne dass die besondere, von einer bestimmten Identität geprägte Perspektive einer Figur verraten werden muss. Terézia Mora hat in ihren Darius-Kopp-Romanen sowohl die richtige Distanz als auch die richtige Sympathie für ihren Protagonisten gehalten, so wie im neuen Roman für ihre Erzählerin.

Terézia Mora: „Muna oder Die Hälfte des Lebens“. Luchterhand, München 2023, 448 Seiten, 25 Euro

Zur erzählerischen Distanz gehört auch, dass der Text mit Brüchen darauf hinweist, dass Muna eine nur bedingt zuverlässige Erzählerin ist. Es handelt sich um durchgestrichene Passagen, mit denen für den Leser, der den Text darunter lesen kann, die Wahrheit des Erzählten in Frage gestellt wird. So korrigiert sie sich beispielsweise an einer Stelle, an der sie sich positiver schildert, als sie in Wirklichkeit ist. Diese typografischen Eingriffe passen auch zur ruhelosen, knappen Schreibweise, so, als hätte sie keine Zeit mehr gehabt, die entsprechenden Stellen zu löschen.

„Muna oder Die Hälfte des Lebens“ steht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. „Das Ungeheuer“, der zweite Band der Trilogie um Darius Kopp, hat den Preis für den Roman des Jahres 2013 gewonnen. Terézia Mora wäre die erste Autorin, die ihn zwei Mal gewinnen würde. Ihr neuer Roman hätte das Zeug dazu.

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