: „Kultur als Mittel der Reflexion“
Seit fünf Jahren schaut und diskutiert die Kampagne „Schluss mit Austerität“ in der Uni Hamburg öffentlich Filme über die Schuldenbremse, soziale Kürzungen und den politischen Kampf dagegen. Heute geht es um den Putsch in Chile vor 50 Jahren und den Aufstieg des Neoliberalismus
Interview Jonas Frankenreiter
taz: Frau Hildebrandt, warum fordern Sie mit Ihrer Kampagne „Schluss mit Austerität“, also Schluss mit der Idee, durch Sparen eine staatliche Neuverschuldung zu verhindern?
Franziska Hildebrandt: Der Ausgangspunkt war die Auswertung der G20-Proteste im Sommer 2017 in Hamburg. Die Polizeigewalt war brutal, die politischen Inhalte, die von den G20-Staaten vertreten werden, sind aber noch brutaler: Kürzungen, Abschottung und Militär. Dabei müsste angesichts des enormen gesellschaftlichen Reichtums niemand an Hunger oder heilbaren Krankheiten sterben.
Was hat das mit Austerität zu tun?
Nach der brutalen Austeritätspolitik gegenüber Griechenland haben wir festgestellt, dass der ideologische, politische und praktische Ausgangspunkt auch hier in Deutschland liegt, mit der Schuldenbremse und den sozialen Kürzungen. So kam es zu der Kampagne, während der wir uns entschieden haben, das Mittel des Volksentscheids zu wählen. Der zielte darauf, dass diese Regelung aus der Hamburger Landesverfassung gestrichen wird. Aber der Entscheid wurde, nachdem wir über 13.000 Unterschriften für das Anliegen in Hamburg gesammelt hatten, vom Landesverfassungsgericht für ungültig erklärt.
Warum?
Die Begründung war, dass wir durch eine Änderung auf der Landesebene auf der Bundesebene nichts verändern könnten, das war uns aber bewusst. Allerdings gibt es auch Spielraum: In Nordrhein-Westfalen steht die Schuldenbremse nicht in der Landesverfassung, sondern nur in der Finanzordnung, was zur Folge hat, dass sie auch mit einer einfachen Mehrheit wieder geändert werden kann. In Hamburg braucht es dafür eine Zweidrittelmehrheit, um sie wieder aus der Verfassung zu streichen. Politischer Hintergrund war, dass man an der Schuldenbremse festgehalten wollte.
Im Filmseminar gegen Austerität sehen und diskutieren Sie alle zwei Wochen einen Film zur Thematik. Warum zeigen Sie die Filme ausgerechnet vor dem Philosophenturm in der Uni?
Der Philturm wurde geräumt, weil er grundsaniert werden musste. Dort ist eigentlich ein Zentrum studentischen und internationalistischen Engagements. Aber dann mussten die Studierenden und Mitarbeiter in die City Nord ziehen. Auch das war ein Ergebnis von „Sparpolitik“. Hätte man das Gebäude während des Betriebes instand gehalten – denn die Substanz ist eigentlich gut – hätte es diese Grundsanierung nicht gebraucht. Also haben wir uns überlegt, wie wir dieses tote Ende des Campus beleben können. So kam es zum Filmseminar unter freiem Himmel. Damit haben wir 2018 im Sommer angefangen, seitdem zeigen wir alle zwei Wochen einen Film, zu denen alle über die Universität hinaus eingeladen sind.
Wie wählen Sie die Filme aus?
34, studiert Sozialökonomie und engagiert sich in der Kampagne „International solidarisch: Schluss mit Austerität!“.
Wir wollen uns Kunst und Kultur als Mittel der Bildung und Reflexion aneignen. Seit etwa einem Jahr legen wir einen Fokus auf die Themen Krieg und Frieden. Zum Beispiel haben wir den Film „Official Secrets“ gesehen, der sich um die Frage der Vorbereitung des Irak-Kriegs in Großbritannien und der Gegnerschaft aus der Friedensbewegung dreht. Wir zeigen Dokumentationen und häufig Spielfilme, auch aus der DDR. Derzeit konzentrieren wir uns auf den Zusammenhang zwischen der Kriegspolitik nach außen und der Kürzungspolitik im Inneren sowie deren Überwindung durch gemeinsames, gesellschaftliches Engagement für eine soziale wie zivile Zeitenwende.
Am Mittwoch zeigen Sie den Film „Der Übergang“. Worum geht es darin?
Der Film befasst sich mit dem Wirken progressiver Kräfte gegen den brutalen Militärputsch in Chile vor 50 Jahren. Allendes Unidad Popular und der Aufbau des demokratischen Sozialismus in Chile sind ein positiver Bezugspunkt für uns, weil es um Politik für die Menschen und das Allgemeinwohl und nicht für die Profite geht. Mit dem Putsch durch das Militär unter General Augusto Pinochet begann der Neoliberalismus mit zahlreichen finanziellen Deregulierungen und Privatisierungen. Das macht das Ereignis auch interessant für den Kampf gegen den Neoliberalismus heute.
Was planen Sie über die Filmreihe hinaus für die kommende Zeit?
Film-Seminar gegen Austerität: 14-tägig am Mittwochabend, vor dem Philturm auf dem Campus der Universität Hamburg; Infos und Programm: schluss-mit-austeritaet.de
„Der Übergang“ von Orlando Lübbert (CHL/DDR 1978): heute, 20 Uhr, auf dem Campus, bei schlechtem Wetter im Anna-Siemsen-Hörsaal, Von-Melle-Park 8
Wir wollen die sozialen und politischen Grundrechte und das demokratische und politische Leben wiederbeleben. Deswegen starten wir eine Initiative für Sozialproteste mit Kollegen und Kolleginnen aus den Gewerkschaften, Sozialverbänden, Rentnerinnen und Rentnern sowie Studierenden – für eine soziale Wende. Wir halten es für erforderlich, dass nicht jeder den Frust in sich hineinfrisst, das böte einen Nährboden für die AfD. Dieses Bündnis ist gerade im Aufbau. Es gibt nun einen ersten Aufruf.
Geht es auch weiterhin um die Überwindung der Schuldenbremse?
Ja, auf jeden Fall. Es gibt inzwischen Stimmen auch aus dem anderen Lager, also dem Lager der Arbeitgeber und der Industrie, die sich gegen die Schuldenbremse stellen, auch in Bezug auf den „Inflation Reduction Act“ in den USA. Auch in China wird massiv investiert. Es geht nun erst recht darum, dass der von uns allen geschaffene Reichtum allen zugutekommt, auch durch staatliche Investitionen, statt auf Aktionärskonten zu vergammeln oder ins Militär gesteckt zu werden. Dafür braucht es das gemeinsame Engagement und soziale Bewegungen, wo wir uns einbringen und wozu wir aufrufen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen