Ringen um die Rechtsstaatlichkeit

Israels oberste Richter müssen eine Entscheidung treffen: Bestätigen sie ein kontroverses Gesetz der umstrittenen Justizreform und beschneiden somit ihre eigene Macht?

Public Viewing wie bei einem Sportwettbewerb: Israelis verfolgen die Debatte vor dem obersten Gericht am Dienstag live Foto: Photo: Oded Balilty/ap Photo

Aus Jerusalem Felix Wellisch

Es ist eng im Obersten Gerichtshof in Jerusalem. Schulter an Schulter haben sich die 15 obersten Gesetzeshüter Israels am Dienstagmorgen um Gerichtspräsidentin Esther Chajut am Richtertisch zusammengedrängt. Sie müssen eine der wichtigsten Entscheidungen in der Geschichte ihrer Institution treffen: Lassen sie sich von der rechtsreligiösen Regierung und dem Parlament eines ihrer wichtigsten Werkzeuge zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit nehmen? Oder erklären sie die Abschaffung der sogenannten Angemessenheitsklausel für ungültig – und greifen somit in eines der Grundgesetze ein, die in Israel Verfassungsrang haben?

Die Aufhebung der Klausel, die das Parlament Ende Juli per Gesetz beschlossen hat, ist ein Kernelement des umstrittenen Justizumbaus der Regierung. Sie nimmt den Richterinnen und Richtern die Möglichkeit, Entscheidungen und Gesetze als „unangemessen“ und damit für ungültig zu erklären. Mit der Anhörung am Dienstag werden nun die zahlreichen Petitionen bearbeitet, die gegen das Gesetz eingereicht wurden. Das Hauptargument: Da Israel weder über eine Verfassung noch über eine starke Legislative verfügt, braucht es für die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit und der Gewaltenteilung eine starke Justiz. Wann das Urteil fallen soll, ist offen – und ebenso, ob die Regierung sich daran halten würde.

Das Gericht habe nicht das Recht, sich in die Gesetzgebung einzumischen, beginnt der Knessetabgeordnete Simcha Rothman, einer der Architekten des Justizumbaus, sein Plädoyer. Es sei an der „Öffentlichkeit, zu entscheiden, wie die Regierung geführt wird“. Auf die Frage, was passieren würde, sollte die Regierung die nächsten Wahlen um zehn Jahre verschieben oder allen arabischen Israelis das Wahlrecht entziehen, antwortete er: „Wenn wir Fehler machen, können wir durch Wahlen abgesetzt werden.“

Lediglich sechs Regierungsmitglieder betonten zuvor, dass Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs respektiert werden müssten. Netanjahu und die meisten seiner Kabinettsmitglieder haben bisher nicht klargestellt, ob sie ein Urteil des Gerichts im Falle einer Ablehnung akzeptieren würden.

Die Argumentation der Richterinnen und Richter kreist an diesem Dienstag immer wieder um die Frage: Wie soll die Justiz künftig ohne Druckmittel sicherstellen, dass die Regierung sich an demokratische Prinzipien hält? Die Vertreter der Regierung und des Parlaments wechseln zwischen Kampfansagen und Versprechen. Es sei „Sache des Volkes“ und gewählter Vertreter, über die Demokratie zu wachen. Die Richter könnten sich darauf verlassen, dass die Regierung ihnen zuhöre. Richter Isaak Amit entgegnet: „Demokratien sterben nicht von wenigen großen Schlägen, sie sterben in vielen kleinen Schritten.“

Der Justizumbau hat das Land bereits jetzt in eine der größten Krisen seiner Geschichte gestürzt. Die Fronten sind verhärtet. Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara, eine der prominentesten Gegnerinnen der Reform, hatte sich im Vorfeld geweigert, die Position der Regierung vor Gericht mitzutragen. Diese muss sich nun stattdessen durch einen privaten Anwalt vertreten lassen.

Am Vorabend demonstrierten Zehntausende Gegner der Reform vor dem Gerichtsgebäude in Jerusalem. Seit rund neun Monaten gehen Woche für Woche Hunderttausende landesweit auf die Straße, um gegen die Pläne der Regierung zu protestieren. Außerdem kündigten in den letzten Monaten Tausende Reservisten der Armee an, nicht mehr zum Dienst zu erscheinen, sollte die Reform durchgesetzt werden. Der Kurs der israelischen Währung Schekel schwächelt seit Monaten und Oppositionsführer Jair Lapid warnte, die Reform gefährde die Sicherheit des Landes.

Israel steht ein turbulenter Herbst bevor. Mitte Oktober kehrt das Parlament aus der sitzungsfreien Zeit zurück. Die Regierung könnte dann versuchen, auch die übrigen Teile der geplanten Justizreform voranzutreiben. Außerdem liegen dem Gericht zwei weitere kontroverse Petitionen vor: gegen ein Gesetz von Ende März dieses Jahres, das es massiv erschwert, einen amtierenden Ministerpräsidenten aus seinem Amt zu entfernen, sowie zu einem Streit über die Besetzung zahlreicher Richterposten, die Justizminister Jariv Levin seit Langem hinauszögert.