Soziologin über Israel und Palästina: „Es handelt sich um eine Annexion“
Der Justizumbau hänge eng mit der Besatzung zusammen, sagt Soziologin Yael Berda. Die Grenze zwischen Israel und den besetzten Gebieten verschwimme.
taz: Frau Berda, Israels Regierung hat vor der Sommerpause ein Gesetz verabschiedet, das dem Obersten Gericht untersagt, Regierungsentscheidungen auf „Angemessenheit“ zu überprüfen. Es war der erste Schritt des umstrittenen Justizumbaus. Wird das Gericht diese oder weitere Umstrukturierungen noch abwenden können?
Yael Berda: Im September wird das Gericht entscheiden, ob es das Gesetz akzeptiert, das ihm die Macht rauben will. Hoffentlich wird es entscheiden, dass die Abschaffung der Angemessenheitsklausel verfassungswidrig ist. Dann werden wir aller Voraussicht nach eine Verfassungskrise erleben.
Yael Berda, Jahrgang 1976, ist eine israelische Anwältin und Soziologin. Sie wurde in New York geboren und wuchs in Jerusalem auf. Berda promovierte an der Fakultät für Soziologie der Princeton University und lehrt heute an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Sie engagiert sich in der Initiative „Ein Land für alle“, die eine konföderative Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts anstrebt – mit zwei Staaten und einer offenen Grenze.
Inwiefern?
Wir haben in Israel keine schriftliche Verfassung, nur eine Reihe Entscheidungen des Obersten Gerichts, die verfassungsmäßige Rechte konstituieren. Die Angemessenheitsklausel war das wichtigste normative Instrument zur Kontrolle der Exekutive. Wenn das Gericht entscheidet, dass das von der Regierung erlassene Gesetz verfassungswidrig ist und es daher für nichtig erklärt werden sollte, wird die Polizei zum Beispiel entscheiden müssen, ob sie nun auf die Regierung hört oder auf das Gericht.
Worauf würde das konkret hinauslaufen?
Absolutes Chaos. Was gesetzmäßig ist, würde davon abhängig gemacht, wer Entscheidungen trifft beziehungsweise wer auf wen hört.
Was wäre die Alternative zum Obersten Gericht, sollte es im Zuge einer solchen Krise nicht mehr die Oberhand behalten?
Die Regierung würde politisch gleichgesinnte Richter einsetzen, Anhänger des Justizumbaus. Auch eine massive Stärkung der Rabbinatsgerichte, die in Israel Personenstandsangelegenheiten wie Heirat und Scheidung verwalten, steht im Raum.
Was sollten Länder wie Deutschland angesichts all dessen tun?
Handeln. Die Regierung hat erklärt, dass sie ein Land will, das mehreren diskriminierten Gruppen bislang noch bestehende Rechte wegnimmt – Palästinensern, Frauen, Menschen mit Behinderungen. Diese und weitere Gruppen werden zur Zielscheibe. Der Moment zum Eingreifen ist jetzt. Kein liberales Land kann so eine Regierung guten Gewissens unterstützen.
Die Justizreform – oder der Justizcoup, wie viele in Israel sagen – steckt zum Großteil noch im Planungsstadium. Bislang wurde ein Gesetz verabschiedet, das das Oberste Gericht schwächt. Seit Monaten gehen Tausende Regierungskritiker auf die Straße, um gegen den Umbau des Staates und für Demokratie zu demonstrieren. Ab Oktober will die Regierung weitere Gesetze vorantreiben. Im Gespräch ist, dass das Parlament das Oberste Gericht künftig überstimmen können soll. Auch eine Reform des Komitees, das Richter ernennt, ist im Gespräch.
Die Besatzung der palästinensischen Gebiete hängt mit der Justizreform indirekt zusammen. Einige Kritiker der rechten Regierung Israels argumentieren, dass echte Demokratie nur etabliert werden kann, wenn der Protest nicht nur Kernisrael, sondern auch die besetzten Gebiete in den Blick nimmt. (hag)
Über 2.000 Intellektuelle haben im August einen offenen Brief unterschrieben. Sie verurteilen darin den Justizcoup in Israel und die Besatzung der palästinensischen Gebiete und unterstreichen die Verbindung zwischen beidem. Der “eigentliche Zweck“ des Justizcoups sei es, “Palästinensern gleiche Rechte vorzuenthalten“ und “mehr Land zu annektieren“. Auch von bereits bestehender Apartheid ist die Rede. Wie wichtig sind solche Diskurs-Verschiebungen?
Sehr wichtig. Die Proteste verändern die politische Landkarte in Israel gewaltig. Liberale, die Teil der sogenannten Mitte waren, verstehen dieser Tage, was ich die Dreifaltigkeit nenne: die Beziehung zwischen Besatzung, Siedlungsprojekt und autoritärem Justizputsch.
Welches Interesse verfolgen die Siedler in Ihren Augen denn mit dem Justizcoup?
Sie brauchen ihn. Sie müssen das Oberste Gericht beseitigen, weil es ihrer Umgestaltung Israels zu einem exklusiv jüdischen Land im Weg steht. Gleichzeitig gibt es zum ersten Mal seit der Ermordung des damaligen israelischen Premiers Rabin heute einen wachsenden Teil der israelischen Bevölkerung, der sagt: ‚Wir wollen kein religiöses Land. Wir wollen keinen Apartheidstaat. Wir wollen keinen endlosen Krieg.‘ Sie begreifen, dass sie nicht länger nur zuschauen können.
Hat der Protest, der über die Ablehnung des Justizcoups hinausgeht und auch die Besatzung in den Blick nimmt, das Potenzial, zu einer dauerhaften Bewegung zu werden?
Die große Frage ist, ob die Protestierenden in der Lage sind Koalitionen herbeizuführen, die zur Überwindung dieser Situation erforderlich sind. Das erfordert Mut. Die Führung der Opposition, Jair Lapid und Benny Gantz, haben große Angst, sich für liberale Rechte von Palästinensern auszusprechen – wenngleich das natürlich alles andere als radikal wäre.
In letzter Zeit wurde ein Teil der Protestierenden, für die die Besatzung weniger im Vordergrund steht, dafür kritisiert, einen undemokratischen Status quo innerhalb Israels aufrechterhalten zu wollen. Man trage das Banner der Demokratie, habe aber wenig über das Militärregime zu sagen, das Israel seit über 50 Jahren im Westjordanland aufrechterhält.
Es stimmt, viele der Protestierenden weichen in mehreren Punkten nicht fundamental von den Zielen der extremen Rechten ab. Ich denke allerdings, der Unterschied ist wichtig. Mehr und mehr Israelis verstehen, dass das Expansionsdenken der Siedler darauf aus ist, die noch verbleibende Macht von Palästinensern auf allen Ebenen zu dezimieren. Alle, die sich für Rechte von Palästinensern einsetzen, gelten in ihren Augen als Terror-Unterstützer. Ich selbst versuche bisweilen selbst, mit Siedlern ins Gespräch zu kommen. Aber wenn Leute überzeugt sind, dass es ihr Recht ist, Palästinenser zu deportieren, gibt es nichts zu diskutieren.
Stimmt es, dass einige der Protestierenden, die seit Monaten gegen den Justizcoup auf die Straße gehen, in erster Linie juristischen Konsequenzen entgehen wollen?
Sehen Sie sich die Bewegung von Reservisten der Luftwaffe an, die im Zuge des Justizcoups Dienstverweigerung angekündigt haben. Die haben große Angst. Wenn das Oberste Gericht in Israel abgeschafft werden sollte, könnten sie bald selbst in Den Haag landen. Viele Reserve-Piloten, die jetzt ihren Dienst verweigern, tun das, weil sie fürchten, Dinge, die sie unter dem Deckmantel liberaler Rechtsstaatlichkeit in den besetzten Gebieten jahrzehntelang tun konnten, nicht mehr tun zu können. Das ist ein koloniales Argument. Es folgt der Logik des britischen Empire, das stets versuchte, sich rechtlich abzusichern. In Augen der Reservisten war Israel ein demokratischer Staat, bis zu dieser Regierung.
Unabhängig vom Justizcoup ermittelt der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag zu Kriegsverbrechen in Palästina seitens Israel sowie seitens militanter palästinensischer Gruppierungen. Was steht auf dem Spiel?
Wenn der IStGH tatsächlich ein Verfahren eröffnet und Dinge, die im Rahmen der Besatzung passiert sind, als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft werden, werden sich zahlreiche Menschen tatsächlich in Den Haag vor Gericht verantworten müssen. Das erklärt die Angst israelischer Reservisten. Israels Oberstes Gericht hat deren Aktionen immer entweder für rechtmäßig erklärt oder es folgte – selbst wenn es die Aktionen als illegal einstufte – in der Regel ein geringfügiges Verfahren. So konnte man zumindest behaupten, dass es ein Verfahren gab.
Das klingt zynisch.
Ja. Aber das IStGH-Verfahren wäre wirklich eine ernste Sache. Ich denke, wir sollten politische Alternativen anvisieren, die eine Form von Restitution für Palästinenser voranbringen und palästinensischen Geflüchteten die Rückkehr ermöglichen.
Haben Sie eine Vorstellung, wie?
Ich gehöre einer Gruppe an, die sich “Ein Land für Alle“ (Eretz le'Kulam) nennt. Unsere Lösung ist eine Konföderation, in der es zwei Staaten gibt und eine offene Grenze. Die Mauer fiele. Palästinenser – nicht nur die, die schon israelische Staatsbürger sind – könnten sich in Israel niederlassen. Siedler könnten als Einzelpersonen unter palästinensischer Souveränität dort bleiben, wo sie sind. Menschen würden in ihren jeweiligen Staaten ein eigenes Parlament wählen. Unser Vorbild ist die Europäische Union.
Die Zweistaatenlösung ist in Ihren Augen keine Alternative mehr?
Die Zweistaatenlösung war von Beginn an eine schlechte Idee. Sie wurde jahrzehntelang ohne guten Grund aufrechterhalten. Dieser Ort lässt sich praktisch nicht aufteilen. Für Palästinenser ist das gesamte Gebiet Palästina. Für jüdische Israelis ist das ganze Land heilig. Wir brauchen eine neue Vision.
Nicht nur der IStGH, auch der Internationale Gerichtshof, der IGH, befasst sich mit Israel. Er erarbeitet ein Urteil zum rechtlichen Status der Besatzung. Was halten Sie davon?
Indem der IGH diese Frage angeht, zeigt er, dass er den Status quo nicht länger zu akzeptieren bereit ist.
Was hat zum Bruch dieser Art Akzeptanz geführt?
Ich denke, das Nationalstaatsgesetz, das 2018 verabschiedet wurde, hat viel verändert. Dies war die erste gesetzliche Erklärung der exklusiven Zugehörigkeit von Juden zu Israel. Es implizierte auch eine explizite Nichtanerkennung palästinensischer Selbstbestimmung. Dazu kommt, dass sich die De-facto-Annexion des Westjordanlands in eine De-jure-Situation verwandelt. Einige Beobachter beginnen zu verstehen, dass sich ein Zeitfenster schließt.
Sollte der IGH die Illegalität der Besatzung feststellen, welche Verpflichtungen würden sich daraus für UN-Mitgliedstaaten ergeben?
Internationales Recht hat kein unmittelbares Durchsetzungsorgan. Was wir wissen: Wenn die Besatzung für illegal erklärt wird, werden auch die bisherigen Maßnahmen von Israelis in den besetzten Gebieten, militärische wie zivile Maßnahmen, für illegal erklärt und könnten als Straftaten geahndet werden.
Hieße das, dass Siedler kein Land und keine Häuser mehr im Westjordanland kaufen könnten?
Die Struktur selbst, also die israelische Zivilverwaltung, die Fragen rund um Besitz und Enteignung im Westjordanland verwaltet, würde illegal. Das würde zunächst extreme Unsicherheit erzeugen, was den Status dort lebender Israelis betrifft.
Olaf Scholz soll Berichten zufolge jüngst eine schriftliche Erklärung des Auswärtigen Amts vor dem IGH blockiert haben, die Deutschlands Sicht zum rechtlichen Status der Besatzung darlegt. Den Berichten zufolge ging sie für deutsche Verhältnisse „zu weit“. Großbritannien soll versucht haben, das IGH-Urteil als Ganzes zu blockieren. Wie schätzen Sie das ein?
Deutschland und Großbritannien waren lange Teil eines Prozesses, der eine bestimmte Art Lösung des Konflikts zum Ziel hatte, die Zweistaatenlösung. Jetzt ist es ist nicht leicht zuzugeben: „Sorry, wir haben die Sachlage missverstanden.“ Man muss sich auch vor Augen führen, wie viel Geld die Geberländer in die Sicherheitssysteme investiert haben, die Israelis und Palästinenser trennen, und so das vielleicht ausgeklügeltste Überwachungs- und Mobilitätsregime der Welt ins Leben gerufen haben – im Namen des Friedens.
Welches Recht gilt eigentlich in den besetzten Gebieten?
Die Rechtsprechung im Westjordanland folgt ethnischen Kategorien: Palästinenser unterliegen Militärstrafrecht und dem Strafrecht der Palästinensischen Autonomie, für Siedler gilt israelisches Zivilrecht. Wenn ein Siedler und ein Palästinenser zur gleichen Zeit und am gleichen Ort dasselbe Verbrechen begehen, wird der Palästinenser vor ein Militärgericht gestellt, der Siedler vor ein israelisches Zivilgericht. Konkret heißt das: völlig unterschiedliche Verfahren und Strafen, nach ethnischen Kriterien. Apartheid ist allein schon rechtlich betrachtet nicht etwas, was droht, sondern etwas, das in den besetzten Gebieten seit Jahrzehnten fest verankert ist.
Viele sprechen mit Blick auf das Westjordanland inzwischen von einer De-facto-Annexion Israels anstatt einer Besatzung. Was halten Sie davon?
Israels Finanzminister Bezalel Smotrich hat alle Behörden der zivilen Administration über das Westjordanland übernommen, sodass es sich schon jetzt nicht mehr um eine militärische, sondern bereits um zivile Besatzung handelt – sprich: eine Annexion de jure, nicht nur de facto. Darauf braucht niemand zu warten. In den jüngsten israelischen Koalitionsvereinbarungen steht jedoch explizit, dass die Regierung palästinensisches Land legal annektieren will. Es geht darum, die Trennung zwischen israelischem Staatsgebiet und den besetzten Territorien sukzessive weiter aufzuheben.
Unter welchen Bedingungen wäre eine Besatzung eigentlich legal?
Nach internationalem Recht ist es grundsätzlich nicht rechtmäßig, Territorium mit Gewalt zu erobern. Der Sinn von Besatzungen ist, umstrittene Gebiete in Kriegszeiten neu aufzuteilen. Daher ist es essenziell, dass Besatzungen militärischer Natur sind – so etwas wie zivile Besatzung gibt es nicht. Israels Besatzung des Westjordanlands dauert allerdings über 55 Jahre an. Ihre Unbestimmtheit und Dauer sind die Hauptgründe, die sie in den Augen internationaler Beobachter illegal machen.
Was hat sich mit der aktuellen israelischen Regierung noch verändert?
Zunächst einmal hat sie die Ziele des Nationalstaatsgesetzes von 2018 zur offiziellen Regierungslinie erhoben. Ziel ist, eine exklusiv-jüdische, nationale Heimstätte zwischen Jordan und dem Meer zu schaffen. Wir sprechen über potenziellen Völkermord. Smotrich hat selbst erwähnt, dass es eine zweite Version der Nakba geben könnte. Itamar Ben-Gvir (Minister für nationale Sicherheit, d. Red.) ist Kahanist. Diese Leute glauben an sprichwörtliche Auslöschung von Palästinensern. Hier sollten in der internationalen Gemeinschaft wirklich alle Alarmglocken angehen.
Werden Sie als Soziologin eigentlich mit dem Vorwurf des Aktivismus konfrontiert?
Sicher, doch mir ist dieser Vorwurf egal. Ich war mein ganzes Leben lang Aktivistin. Ich bin als Aktivistin in die Universität gegangen, mit dem Ziel, die Gesellschaft zu verändern. Ich sehe das nicht als etwas Negatives. Es ist exakt, worauf es jetzt ankommt.
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