Umkämpftes Saporischschja in der Ukraine: Die kriegsmüde Stadt
Die Region Saporischschja ist seit Kriegsbeginn immer wieder schweren Angriffen ausgesetzt. Was macht das mit ihren Bewohner:innen?
N achdenklich und etwas traurig sitzt Maxim Gorki in dem 5.000-Einwohner-Dorf Komischuwacha auf seinem Stuhl und blickt auf die hundert Meter entfernte Kirche – oder auf das, was von dieser noch übrig geblieben ist. Seit Ostern sieht Maxim Gorki dort nur noch Steine. Denn in der Osternacht, also in der Nacht zum 16. April 2023, ist die orthodoxe Kirche von Komischuwacha von russischen Raketen vollständig zerstört worden. Maxim Gorki ist ebenfalls aus Stein. Sein Denkmal in Komischuwacha ist eines von wenigen Denkmälern für russische Autoren, die es heute noch in der Ukraine gibt.
Die Bewohner hatten ihm dieses Denkmal zu Sowjetzeiten gesetzt, weil er 1928 für einen Tag Komischuwacha besucht hatte. In Komischuwacha hört man ständig das Feuer der Artillerie. Die Front ist etwa 20 bis 30 Kilometer weit entfernt. In der anderen Richtung liegt gut 30 Kilometer entfernt die 700.000-Einwohner-Stadt Saporischschja. Komischuwacha ist seit Beginn des russischen Angriffskriegs schon so oft beschossen worden, dass man sich als Frontstadt sieht. Wie gehen die Menschen hier mit dem Krieg in ihrem Alltag um? Wie zersetzend wirkt der Krieg auf den Zusammenhalt in der ukrainischen Gesellschaft?
Der Kulturbeauftragte
Anatoli Lasko, Leiter der Abteilung für Kultur und Tourismus der Gemeinde, führt seine Besucher zu der Kirche und den anderen zerstörten Gebäuden, die ebenfalls von russischen Raketen erfasst und vernichtet worden sind.
Beim Erzählen über die Osternacht hat er Tränen in den Augen, als sei das erst gestern passiert. Es macht ihm keine Freude, sich vor den zerstörten Gebäuden ablichten zu lassen. Aber er tut es, will er doch auch, dass die Welt von den Schrecken erfährt, die sein Dorf erlebt hat und auch aktuell durchlebt. Hier sei das Überleben schwer, erklärt Anatoli Lasko. Man lebe von der Landwirtschaft und von humanitärer Hilfe.
Im Gang der Verwaltung des Dorfes hängen Porträts von über einem Dutzend Männern von hier, die an der Front gefallen sind. Der kleine Lebensmittelladen nebenan ist sehr überschaubar, am Eingang lachen ein paar Mädchen zusammen mit Soldaten über irgendeinen Witz. Alle haben sie ein Vanilleeis in der Hand.
Die örtliche Feuerwehr hat zu einem kulturellen Event eingeladen. Es spielt eine bekannte Gruppe, die „Kulturnij Desant“. Die vier Band-Mitglieder sind alles Männer, die in der Armee waren oder es noch sind. „Hop Stop, Bilgorod, Bilgorod ist ukrainische Erde“, singen sie. Die zwei Dutzend Besucher*innen sind begeistert, fast alle klatschen frenetisch mit. In dem Lied, das die Band auch auf Youtube veröffentlicht hat, wird der Traum von der Eroberung der russischen Stadt Belgorod durch ukrainische Truppen besungen. Verteidigung war offenbar gestern, heute träumt mancher von Eroberung.
Die Nachbarinnen
„Gut, dass Sie heute später als besprochen aus dem Stadtzentrum zurück sind“, begrüßt die Vermieterin Anschelika ihren ausländischen Gast im fünften Stock eines Hochhauses am Stadtrand von Saporischschja. „So was haben Sie noch nicht erlebt, was ich erlebt habe.“ Anschelika ist immer noch ganz außer sich. „Vor einer halben Stunde flog ein hässlicher Vogel tief über unser Dach. Er war groß, er war schwarz, er war laut und er hat ein komisches Geräusch hier direkt über dem Dach gemacht.“ Anschelika hat eine russische Drohne gesehen.
Die Nachbarin, die aus ihrer Wohnung gekommen ist, aus der man russisches Fernsehen hört, stimmt ihr zu. Diese Drohne habe sogar sie, eher durch Zufall, gehört. Im Gegensatz zu Anschelika hat sie nämlich ihren Fernseher immer an, auch nachts und das ziemlich laut. „Ich bin es einfach leid“, sagt sie, „immer die Ohren spitzen zu müssen, ob wieder eine Drohne oder eine Rakete kommt. Wenn es uns trifft, dann trifft es uns eben. Aber wenn die Rakete am Haus vorbeifliegt, muss ich das gar nicht wissen“, erklärt sie ihren Verdrängungsmechanismus.
Der Krieg ist für die Frau näher als für manche anderen Nachbarinnen. Vor 15 Jahren hat sie sich von ihrem Mann scheiden lassen, erzählt sie. Das sei in Wolgograd gewesen, ihr Mann war damals Berufssoldat. „Und wenn der jetzt nicht schon in Rente ist, schießt er vielleicht auf unseren Sohn“ sinniert sie verbittert. „Der kämpft auf der ukrainischen Seite im Donbass.“
In Saporischschja hört man die Front nicht. Nur wer direkt am Fluss wohnt, hört das Donnern der Artillerie: Das Wasser transportiert den Schall. Jeder in Saporischschja geht anders mit der ständigen Gefahr um, die der Stadt durch die russischen Raketen und Drohnen drohen. Anschelikas Nachbarin hat sich für das Verdrängen entschieden, versucht so viel Normalität wie möglich zu leben. Und hat ihren Fernseher so laut gestellt, dass sie weder Sirenen noch Einschläge hört.
Jeden Tag und fast jede Nacht heulen in Saporischschja mehrfach die Sirenen, macht es irgendwo ein dumpfes „Bumm“, verbunden mit einem anschließenden, klammheimlichen und stummen „Gut, dass es nicht mich getroffen hat – noch mal Glück gehabt“. Doch es sterben auch immer wieder Menschen, so wie jüngst am 9. August, als laut der Feuerwehr bei einem russischen Raketenangriff drei Menschen getötet wurden, neun weitere wurden verletzt.
Und während sich die beiden Nachbarinnen über dieses hässliche Ding aus Russland über dem Dach aufregen, dringt russisches Fernsehen auch aus der Wohnung einer anderen Nachbarin. Zwar ist russisches Fernsehen in der Ukraine landesweit blockiert, doch wer VPN-Technik installieren kann oder auf Youtube einen russischen Kanal findet, kann den ganzen Tag lang russisches Fernsehen sehen. In Kyjiw würde sich das allerdings niemand trauen, russisches Fernsehen in dieser Lautstärke. Es sind keine Nachrichtensendungen und schon gar nicht Propagandasendungen aus Russland, die sich die Nachbarinnen im fünften Stock ansehen. Es ist seichte Unterhaltung: Kochkurse, Musik, Sport, schlecht synchronisierte ausländische Filme und britische Agatha-Christie-Krimis.
Eine verrückte Situation: Während die Nachbarinnen noch wegen der russischen Drohne über dem Dach zittern, hört man von der Seite seichte Unterhaltung aus Russland durch die Wohnzimmer rauschen. Doch auch Gourmet-Sendungen können irgendwo politisch sein. „Lange Jahre war die Restaurant-Szene in Moskau von Kaukasiern und Ukrainern beherrscht“, tönt eine russische Stimme aus dem Fernseher. Wie manipulativ.
Nein, russische Talkshows sieht man nicht in Saporischschja im fünften Stock. Und Putin mag man auch nicht. Aber wenn das russische Narrativ über Umwege in die Wohnzimmer von Saporischschja gelangt, dann halten es viele für objektive Information. So geht ein womöglich aus Deutschland stammendes Video viral, das zeigen soll: Die deutsche Regierung enteignet Menschen, um ukrainischen Flüchtlingen zu helfen. Es ist unklar, ob dieses auf Satire gemünzte Video von der AfD stammt – die rechtspopulistische Partei dementiert das.
Sie kennen sie alle, die Nachbarinnen aus dem fünften Stock, die „deutsche Politikerin Alice“, wie sie sagen. Gemeint ist die AfD-Co-Vorsitzende Alice Weidel. „Ich habe den Nachnamen vergessen, aber die sagt den Politikern so richtig ihre Meinung“, finden die Frauen.
Die Verkäuferin
Auch die 38-jährige Nastja, Verkäuferin in einem Supermarkt, hat die Drohne gesehen. Sie spricht mit allen nur Russisch. Nur auf Arbeit redet sie Ukrainisch, weil es der Gesetzgeber so vorschreibt. Und sie denke auch russisch, sagt sie. Nastja lebt in einer lesbischen Partnerschaft mit ihrer Partnerin Ksjuscha, einer Bauarbeiterin. Sie wohnen in der Wohnung ihrer Eltern in diesem Hochhaus im fünften Stock sowie auf einer Datscha am Stadtrand. Nastja liebt die Natur und die gute Luft am Stadtrand. Sie baut Tomaten, Zwiebeln und Gurken in ihrer Datscha an. Und außerdem ist das Leben in einer Gartensiedlung etwas sicherer als in einem Hochhaus, meint sie. Da gäbe es zwar weniger Komfort, aber auch weniger Einschläge russischer Raketen.
Nastja hat Psychologe studiert, doch nach ihrem Studium wollte sie nicht als Psychologin arbeiten. Deshalb heuerte sie bei einem Supermarkt an, sitzt dort zwei Wochen im Monat an der Kasse. Nastja interessiert sich sehr für Politik, ihre Informationen holt sie sich aus ukrainischen und russischen Telegram-Kanälen. „Ich bin für Verhandlungen mit Russland“, sagt sie. „Der Krieg muss endlich aufhören. Menschenleben sind doch das Allerwichtigste, das wir haben.“
Nastja glaubt nicht, dass sich in ihrem Leben viel verändern würde, wenn die Russen die Macht in Saporischschja übernehmen würden: „Das sind ja nicht die Taliban.“ Und solange sie nicht auf Gayparaden gehe, sich mit ihrer Partnerin nicht öffentlich küsse, werde auch sie als Lesbe keine Probleme bekommen.
Vieles, was derzeit in der Ukraine passiert, gefällt ihr nicht. Kürzlich hatte ihre Tante Besuch vom ukrainischen Inlandsgeheimdienst SBU. Diesem war aufgefallen, dass sie über den Messengerdienst Viber mit ihren Verwandten in Russland telefoniert hatte. Man verwarnte sie und forderte sie auf, derartige Telefonate in Zukunft zu unterlassen. Gleichzeitig ist Nastja auch klar, dass in Russland die Freiheiten noch mehr eingeschränkt werden als in der Ukraine.
Nastja möchte nicht in den Krieg. Passieren könnte es indes durchaus. Psycholog*innen gelten als medizinisches Personal – und medizinisches Personal wird vorrangig eingezogen, das gilt auch für Frauen. „Wenn ich vor der Entscheidung stehen sollte, Schützengraben oder Gefängnis, werde ich in den Schützengraben gehen. Eine Verweigerung des Kriegsdienstes kommt für mich nicht infrage. Denn die würde mich völlig von der Gemeinschaft isolieren.“
Wer in Saporischschja mit dem Zug ankommt, wird mit feierlicher Musik aus den Bahnhofslautsprechern begrüßt. Doch schon 100 Meter weiter ist diese Stimmung dahin. Fünf schwer bewaffnete Polizisten stehen am Bahnhofsausgang und kontrollieren die Papiere, vor allem die der männlichen Fahrgäste. Und manch einer wird mit der Bemerkung „wir müssen da noch eine Sache klären“ zum Bleiben aufgefordert. So sehen jetzt, wo sich kaum noch jemand freiwillig zum Kriegsdienst meldet, die Rekrutierungen aus.
Der Unternehmer
Prägend für das Stadtbild von Saporischschja ist die elf Kilometer lange Straße, Sobornij Prospekt. Sie führt vom Bahnhof bis an das Ende der Stadt. Gerne lässt sich hier Andri Chodakowski im Café Lwiw in der Hausnummer 171 nieder. Hier gibt es Schokolade und Kuchen vom Feinsten, die gesamte Produktion aus der Westukraine. Chodakowski hat immer Russisch gesprochen. Seit dem 24. Februar 2022 redet er nur noch auf Ukrainisch.
Chodakowski ist Consultant für zahlreiche medizinische Firmen und Krankenhäuser. Er hat es geschafft, ist mit seiner Arbeit erfolgreich. Er fährt einen neuen tschechischen Škoda, am Wochenende fährt er mit seinem Motorrad durch die Gegend. Er und seine Familie denken gar nicht daran, die Ukraine zu verlassen. Dabei könnte er das. Chodakowski ist über 60 Jahre alt, und da er in Bulgarien geboren ist, könnte er jederzeit einen bulgarischen Pass beantragen. „Die neue russische Verfassung hat Saporischschja ja zu russischem Gebiet erklärt“, sagt er. „Bei uns in Saporischschja witzelt man gerne. Jetzt sind wir also Besatzer unserer eigenen Stadt geworden.“
Chodakowski glaubt an die Zukunft der Ukraine. Die Ukraine wird diesen Krieg gewinnen, sagt er. Und weil das so ist, mache es auch gar keinen Sinn, auszureisen. Chodakowski glaubt nicht, dass die Ukraine Belgorod einnehmen will. „Aber dass wir auf Belgorod schießen, das finde ich richtig“, meint er. „Von Belgorod aus werden Raketen auf ukrainische Städte abgeschossen, und natürlich hat die Ukraine das Recht, auf den Ort zu schießen, aus dem die Raketen kommen.“ Angriff sei nun mal die beste Verteidigung, sagt er, nachdem er von einer seiner zahlreichen Zigaretten vor dem Eingang ins Café zurückgekehrt ist. „Und außerdem“, schiebt er nach, „sollen die Bewohner von Belgorod auch mal spüren, wie es sich anfühlt, wenn man von Raketen beschossen wird.“
Er sei Deutschland dankbar für dessen militärische Unterstützung, so Chodakowski. Doch wenn man berücksichtige, welche Möglichkeiten die viertgrößte Wirtschaft der Welt habe, könne diese Unterstützung vielleicht etwas umfangreicher ausfallen. Das tue den Deutschen doch nicht weh, sagt er. „Die Ukrainer, die das demokratische Europa von dem aggressiven Russland isolieren, wiederum opfern das Wichtigste, was sie haben, ihr Leben.“
Der Lektor
In einem ganz anderen Teil von Saporischschja, dort, wo es nicht mehr weit zur Front ist, lebt der 75-jährige Gennadij Semenow im vierten Stock eines neungeschossigen Hauses. Wer seine Wohnung betritt, dem fallen sofort die vielen Bücher auf, die bis an die Decke reichen. Bücher sind seine Liebe und seine Berufung. Auch heute arbeitet er noch als Lektor für verschiedene Autoren.
Als Erstes zeigt er dem Besucher seinen Balkon. Da hatte es bei ihm eingeschlagen, gleich am ersten Kriegstag. Erst wenige Tage zuvor war er aus Israel zurückgekehrt, wo er zwei Jahre lang gelebt hatte. Seit dem 24. Februar 2022 kommt es immer wieder vor, dass die Fensterscheiben von den nahen Einschlägen klirren. Jetzt haben sich auf dem Balkon Eichhörnchen ein Nest gebaut, sagt er erfreut: „Die wissen auch, dass es nicht zweimal an der gleichen Stelle einschlägt.“
Semenow will in Saporischschja bleiben. Nicht so sehr aus Liebe zur Stadt. Aber es sei doch erniedrigend und alles andere als männlich, einfach abzuhauen. Genau das wollten die Russen doch, glaubt er. Er sieht sich als Mensch russischer Kultur, doch das Russland von heute lehne er kategorisch ab. Wirklich gehen werde er nur, wenn eine Besatzung der Stadt durch die Russen nicht mehr abwendbar erscheine. Zu Sowjetzeiten hatte er regelmäßigen Kontakt zur Dissidentenszene. Als Jude lehnt er den Kult um den ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera ab. Trotz einiger Vorbehalte stehe er hinter der Ukraine, sagt er.
Er könnte woanders leben, wenn er wollte. Aber er will in dem demokratischen Staat Ukraine bleiben. Die Ukraine sei in vielfacher Hinsicht demokratischer als viele westliche Länder, die er besucht habe und in denen viele seiner Freunde lebten. „Ich bin fest davon überzeugt“, sinniert er und macht einen tiefen Zug aus seiner Zigarette, „dass die Ukraine mit Hilfe des Westens den Krieg gegen Russland gewinnt. Und wenn Ihnen jemand sagt, die Ukraine wolle Belgorod besetzen, nehmen Sie das bitte nicht ernst. Wozu sollten wir denn Belgorod brauchen?“ So denke nur eine unbedeutende Minderheit. „Das ist nicht die Meinung der Regierung, und ich hoffe, sie wird es auch nie sein.“
Die Minenräumer
Durch Saporischschja fließt der Dnipro, fünf Meter ist der Pegel des Flusses nach dem 6. Juni, als der Kachowka-Staudamm infolge einer Sabotageaktion brach, gesunken. Diesen niedrigen Pegel kann man auch in Saporischschja am Flussufer beobachten. Was noch vor zwei Monaten unter den Wassermassen verborgen war, liegt nun offen am Ufer. Und das ist nicht nur Sand.
Wortlos ziehen sich an einem Parkplatz hundert Meter vom Ufer des Flusses Dnipro entfernt drei Männer leichte Schutzkleidung an: Helm, schusssichere Weste, schwarze Stiefel. Mit einem Spaten, einem Minensuchgerät und einer zusammenklappbaren Bahre gehen sie zielstrebig auf eine bereits abgeriegelte Stelle am Flussufer zu. Hier liegt etwas braunes, rostiges, ovales. „Wir haben hier eine deutsche Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg vor uns“, klärt der Sprecher des Minenräumdienstes, Ruslan Anikalow, die umstehenden Journalisten auf. Befürchtungen, dass die Bombe ausgerechnet jetzt detoniert, habe er übrigens keine.
Vorsichtig, wie einen verletzten Menschen, nehmen seine Kollegen das Ding in die Hand und legen es auf die Bahre. Anschließend tragen sie es in schnellem Schritt zu ihrem Lkw. Die Entschärfung wird an einem anderen Ort vorgenommen. Es sei schon komisch, meint die Verkäuferin Nastja. Die ganze Welt spreche von einem möglichen Unfall im nahe gelegenen Atomkraftwerk – und ausgerechnet in Saporischschja sei das kein Thema. Gleichzeitig sei diese Tage Jod in allen Apotheken ausverkauft.
Der Bürgermeister
Einer der wenigen, die sich öffentlich um die Sicherheit des AKW sorgen, ist der 38-jährige Dmytro Orlow. Orlow ist Bürgermeister von Enerhodar, dem Standort des AKWs. Wenige Wochen nachdem russische Truppen Enerhodar besetzten, verließ er die Stadt. Seitdem erledigt er seine Aufgaben als Bürgermeister von Saporischschja aus.
Orlow beunruhigt der Druck, den die russischen Besatzer auf die Mitarbeiter des AKWs ausüben. Es sei schon vorgekommen, dass Mitarbeiter direkt vom Arbeitsplatz weg verhaftet worden seien. Besorgniserregend sei für ihn auch, dass die Besatzer entgegen der Anordnung des ukrainischen Betreibers zwei Reaktoren in den Zustand einer Heißabschaltung gebracht hätten.
Außerdem sei ein Teil des Geländes vermint, von Minen in einem der Reaktoren selbst wisse er jedoch nichts, sagte Orlow der taz. Die Internationale Atombehörde IAEA hatte im Juli eine Verminung zwischen der äußeren und inneren Absperrung festgestellt, die aber nicht die Sicherheit des besetzten AKWs beeinträchtigen sollten.
In Saporischschja, auf dem Hof der örtlichen Feuerwache, liegen 3.000 Atemschutzmasken bereit. Freiwillige Helfer*innen haben sie bei einer tschechischen Firma bekommen – für sehr wenig Geld. Sie sollen Menschen bei einem Atomunfall vor dem Schlimmsten schützen. Gleichwohl: In einer Stadt von über 500.000 Einwohnern sind 3.000 Masken ein Tropfen auf den heißen Stein. Und man spürt die Unsicherheit der Mitarbeiter der Feuerwehr, die bei einem ihrer Stände gefragt werden, was im Falle eines Atomunfalls zu tun ist. Mehr als „Fenster zumachen, Klimaanlage ausschalten, Straßenschuhe und Straßenkleidung nicht in die Wohnung nehmen“, fällt Andrej, der für die Feuerwehr am Straßenstand am Infostand steht, auch nicht ein.
Die Rückfahrt mit dem Nachtzug nach Kyjiw ist weniger romantisch als die Ankunft in Saporischschja. Statt feierlicher Musik aus den Bahnhofslautsprechern hört man das Geheul von Sirenen. Und so nutzen viele, Fahrgäste und Passanten, die Unterführung zu den hinteren Gleisen als Luftschutzraum. Und die meisten Fahrgäste verlassen diesen erst wenige Minuten vor Abfahrt.
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