Hamburgs Kunsthalle feiert das Jahr 1923: Chaotische Tage

Das Jahr 1923 war auch für heutige Verhältnisse ein wildes Jahr. Wie sich das in der Kunst spiegelt, ist in der Hamburger Kunsthalle zu sehen.

Ein Metronom, auf dessen Pendel das Bild eines Auges angebracht ist.

tak-tak-tak, die Geschichte schreitet fort: Man Rays „Metronom (Unzerstörbares Objekt)“​ Foto: Elke Walford © Man Ray 2015 Trust / VG Bild-Kunst, Bonn 2023, © Hamburger Kunsthalle / bpk

Wie feiert eine Kunsthalle ein Jubiläum? Meistens mit einer Ausstellung. Aber wenn es um das 100-jährige Bestehen des eigenen Fördervereins geht?

Die Hamburger Kunsthalle versucht es mit einem Zeitfenster: In zwei Räumen werden Gemälde und Graphiken aus dem Gründungsjahr der „Freunde der Kunsthalle“ versammelt und in besonderer Farbmarkierung werden in der ganzen Abteilung der „Klassischen Moderne“ Arbeiten von 1923 hervorgehoben und extra kommentiert. Dieser Fokus löst die einzelnen Werke aus ihren biographischen und stilbezogenen Zuschreibungen und macht die Gleichzeitigkeit der verschiedensten Kunstpraktiken im Gründungsjahr des Vereins anschaulich.

Man Rays Metronom mit dem Auge auf dem Pendel ist ebenso ein Schlüsselwerk des Surrealismus wie als Zeichen lesbar, dass die Berliner Partyjahre gezählt sind und, tak-tak-tak, die Geschichte zwischen Inflation und technischen Innovationen, unter Notverordnungen und Straßenkämpfen nervig ratternd voranschreitet. Picasso ist gerade in seiner neo-klassizistischen Phase. Die Expressionisten malen weiter, sozialkritische, teils fast karikative Bilder und Plakate entstehen, das Bauhaus fördert die Abstraktion; die Neue Sachlichkeit dagegen will sich der physischen Realität versichern.

Zwischen Ausschweifung und Armut war 1923 ein heute kaum vorstellbar chaotisches Jahr: Im Januar wird das Ruhrgebiet von französischen und belgischen Truppen besetzt, in Hamburg kommt es im Oktober zum kommunistischen Aufstand und in München putscht am 9. November der österreichische Terrorist Adolf Hitler.

1923: Gesichter einer Zeit. Bis 24. September, Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall, Altbau;

Zugleich boomen Kultur und Sport. Eine ungeheurere Sensation waren die Nachrichten von den Funden in der Grabkammer des Tutanchamun in Ägypten, die ersten Tonfilmexperimente werden vorgestellt und der HSV wird erstmals deutscher Meister. Am Ende der Hyperinflation kostet ein US-Dollar 4,2 Billionen Reichsmark.

Auf vielen der markierten Bildern werden die Menschen dieser Zeit präsent: Das erst vor Kurzem der Kunsthalle geschenkte große Gruppengemälde des Schriftstellers, Malers und Musikers Otto Tetjus Tügel zeigt in rauchigem Hinterzimmerhalbdunkel zwölfköpfig „Die Kommission des Hamburger Künstlerfests“. Formal anspruchsvoll in rembrandtscher Machart und im Detail doch eher expressiv fängt es die Stimmung zwischen traditionellem Kunstwollen, frischem Zeitgeist und trotzig entlastendem Vergnügungswillen ein.

Menschen in ihrer Verletzlichkeit zeigen Bildnisse von Karl Hofer und Karl Kluth, Otto Dix blickt schonungslos auf Krüppel, Witwen und Prostituierte. Das Menschenbild umfasst mal Empathie, mal Anklage, aber keine Helden, auch wenn die hauptsächlich für ihre Tierplastiken bekannte Bildhauerin Renée Sintenis einen antikisch nackt idealisierten Fußballspieler in Bronze gießen lässt.

Reisen wurden einfacher und so manifestierte auch die Kunst die Erinnerung an Künstlerkolonien oder vermeintliche Paradiese: Die Hamburgerin Anita Rée lebte von 1922-1925 im italienischen Positano und malte sowohl die Zitronenpflückerin Teresina wie eine Landschaft mit „weißen Nussbäumen“, traumhaft fahl wie ein Fresko der Frührenaissance.

„Ein Wirrwarr von Richtungen und Systemen“, bewertete der Kunsthistoriker Albert Dreyfus die Kunst seiner Zeit, die „in der Gesamtschau etwas wie ein Lunapark“ sei. Nur zehn Jahre später würgt ein totalitäres Regime diese Vielfalt ab, die manche als Störung, als krisenhafte Bedrohung oder rauschhafte Beliebigkeit empfinden – und nicht als inspirierende Chance.

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