Wie starb Vitali N.?

Ein Mann stirbt nach einem Polizeieinsatz in Königs Wusterhausen. War es Polizeigewalt? Die Berliner Staatsanwaltschaft geht bisher nicht davon aus. Aber taz-Recherchen bringen immer mehr Ungereimtheiten ans Licht

Aus Königs Wusterhausen und Berlin Anne Fromm
,Daniel Schulz
und Erica Zingher

Ivan N. ist nicht überrascht. „Mein Bruder ist tot. Ich weiß es schon“, sagt er am Telefon. Er sagt das mit ruhiger Stimme.

Wir haben ihn am Donnerstagnachmittag angerufen, um nach Vitali N. zu fragen, 45 Jahre alt, geboren in Moldau. Wie viele aus dem Land hatte er auch einen bulgarischen Pass, um in der EU arbeiten zu können. Am Dienstag der vergangenen Woche nimmt die Polizei Vitali N. in der brandenburgischen Stadt Königs Wusterhausen fest. Einen Tag später stirbt er in einem Berliner Krankenhaus.

Die Staatsanwaltschaft in Berlin ermittelt nun die Todesursache. Recherchen der taz lassen Zweifel aufkommen, wie glaubhaft die Darstellung der Polizei zum Ablauf der Festnahme und zu den Ereignissen danach ist.

Immer wieder sterben in Deutschland Menschen bei Polizeieinsätzen. Oft sind es Menschen mit Migrationshintergrund oder in einer psychischen Ausnahmesituation. Selten werden diese Todesfälle komplett aufgeklärt. Ob auch Vitali N. psychisch krank war, ist unklar. In der Polizeimeldung nach der Festnahme heißt es, er sei „psychisch auffällig“ gewesen.

Vitali N. war seit dem 1. April in einem dreistöckigen Wohnhaus in Niederlehme gemeldet, einem Ortsteil von Königs Wusterhausen. Am 11. April, Dienstag, soll er dort randaliert haben. Eine Nachbarin erzählt am Mittwoch dieser Woche, er sei im Nachbarhaus und in ihrem Haus die Treppen auf- und abgelaufen. „Es klang, als hätte jemand die ganze Zeit Türen geschmissen.“

Die Meldung, die die Polizei am 12. April, dem Tag nach der Festnahme, herausgibt, ist knapp. Ein Mann habe sich „unberechtigt auf einem Grundstück“ aufgehalten, auf Gegenstände und Autos geschlagen. „Er verhielt sich aggressiv, biss.“ Polizisten hätten ihn fixiert und gefesselt – mithilfe von Anwohnern. Plötzlich sei er ohnmächtig geworden, ein Notarzt gerufen worden. Als der Mediziner ankommt, sieht er, dass die Polizeibeamten versuchen, Vitali N. wiederzubeleben. Nach rund 30 Minuten kehrte Vitali N.s Kreislauf wieder zurück. So schreibt es der Notarzt in seinem Bericht. Das Dokument liegt der taz vor.

Ein Krankenwagen fährt Vitali N. etwa 30 Kilometer in ein Krankenhaus im Berliner Bezirk Neukölln. „Zur medizinischen Behandlung“ heißt es in der Polizeimeldung. Gut 20 Stunden nach der Festnahme ist Vitali N. tot.

Während Ivan N. von den deutschen Behörden eine Erklärung für den Tod seines Bruders fordert, produzieren Polizei und Justiz Widersprüche.

Nachdem Vitali N. bewusstlos in das Berliner Krankenhaus eingeliefert wurde, kamen Polizisten in die Klinik, um die Kleidung von Vitali N. zu beschlagnahmen und eine Blutprobe zu entnehmen. Der taz liegt das Amtshilfeersuchen der Brandenburger an die Berliner Polizei vor. Darin bittet ein Hauptkommissar aus Königs Wusterhausen seine Berliner Kollegen, die Kleidung von Vitali N. sicherzustellen und eine Blutprobe zu entnehmen. Dies sei „am heutigen Tage nach Rücksprache mit der“ zuständigen Staatsanwältin der Staatsanwaltschaft Cottbus „um 00.40 Uhr angeordnet“ worden, heißt es in dem Dokument. In Cottbus ist man für Königs Wusterhausen zuständig.

Auf taz-Nachfrage bei der Cottbuser Staatsanwaltschaft sagt eine Sprecherin am Mittwoch dieser Woche allerdings: „Die Staatsanwältin hat in dieser Nacht die Durchsuchung nicht angeordnet.“

Wie kann das sein? Hat die Brandenburger Polizei die Kleidung von Vitali N. ohne offizielle Anordnung beschlagnahmen lassen? Hat die Brandenburger Polizei behauptet, es gebe eine Anordnung, um die Kollegen loszuschicken?

Donnerstag. Zweiter Versuch, das mit der Durchsuchung zu klären. Eine zweite Anfrage bei der Staatsanwaltschaft Cottbus, dieses Mal schriftlich. Keine Antwort, auch telefonisch nicht. Ebensolche Anfragen gehen an das für ganz Brandenburg zuständige Polizeipräsidium in Potsdam und an die für die Ermittlungen zum Tod Vitali N.s zuständige Generalstaatsanwaltschaft in Berlin. Potsdam verweist auf Berlin, Berlin verweist auf die Pressestellen der Polizeien in Berlin und Brandenburg. Die wiederum verweisen auf die Staatsanwaltschaft in Cottbus. Als wir dort den angeblich zuständigen Staatsanwalt erreichen, sagt er, er sei nicht zuständig und seine Kolleginnen in Polen oder anderweitig seien nicht zu erreichen.

Das sind nicht die einzigen Ungereimtheiten.

Die Einschätzungen der Me­di­zi­ne­r:in­nen im Klinikum Neukölln zu den Ursachen für den Tod von Vitali N. decken sich nicht mit denen von Polizei und Justiz. Auf dem Leichenschauschein, der nach Vitali N.s Tod im Klinikum Neukölln ausgestellt wurde, heißt es, Vitali N. habe eine „schwerste anoxische Hirnschädigung“ erlitten, einen systemischen „Sauerstoffmangel durch mechanische Behinderung der Atmung“. Einen „Atem- und Herzstillstand“. Entstanden sei dieser „durch gewaltsames zu Boden drücken von Gesicht und Thorax in Bauchlage“. Gewalt also? Das Dokument liegt der taz vor.

Die Staatsanwaltschaft Berlin hat am Dienstag dieser Woche, eine Woche nach Vitali N.s Festnahme, mitgeteilt, bei einer vorläufigen Obduktion habe es keine Hinweise auf äußere Gewalteinwirkung gegeben. Die Ge­richts­me­di­ziner:in­nen hätten auch keine Belege dafür gefunden, dass Vitali N. an Erde erstickt sei. Mit­ar­bei­te­r:in­nen des Klinikum Neukölln hatten das vermutet. Auch im Einsatzbericht des Notarztes, der Vitali N. in Königs Wusterhausen erstversorgt hat, heißt es, Vitali N. habe „feuchte Erde in Mund und Nase“ gehabt.

In der Lunge von Vitali N. seien allerdings keine Erdrückstände gefunden worden, sagt eine Sprecherin der Berliner Staatsanwaltschaft der taz. Der Tote habe Einblutungen an Rücken und Schulter gehabt, die aber nicht todesursächlich gewesen seien. Die Obduktion ist noch nicht abgeschlossen, es stehen noch feingewebliche Untersuchungen aus.

Eine weitere Unstimmigkeit gibt es bei der Frage, ob Vitali N. noch gefesselt war, auch nachdem er bewusstlos wurde. Ohnmächtige zu fixieren, gilt unter Not­ärz­t:in­nen als gefährlich. Die Reanimation wird erschwert, das Erstickungsrisiko steigt. Am Tag nach dem Einsatz hatte die Polizei vermeldet, dass Vitali N. nach der Festnahme ohnmächtig wurde. Die Handfesseln seien gelöst, Erste Hilfe sei geleistet und ein Notarzt gerufen worden.

Im Einsatzbericht des Notarztes, der der taz vorliegt, klingt das anders. Dort steht, der Arzt sei um 21.45 Uhr alarmiert worden „wegen Atemstillstand in polizeilicher Fixierung“. Als der Notarzt eintrifft, wird der Mann demnach „bereits durch Polizei reanimiert“.

„Handschellen liegen noch an“, notiert der Notarzt in seinem Bericht. Ob das heißt, dass Vitali N. noch vollständig gefesselt war, ließ sich bis Redaktionsschluss nicht abschließend klären.

Vitali N. stirbt am Tag nach seiner Festnahme um 17.57 Uhr auf der Intensivstation 1 des Klinikums Neukölln. Er stirbt allein, heißt es aus der Klinik. Die Polizei habe keine Angehörigen ermitteln können.

Hier kam es zu dem Polizeieinsatz Foto: taz

Ivan N., der Bruder des Toten, spricht mal mit klarer, fester Stimme, mal wird er laut, mal weint er. Ein Mitarbeiter der Botschaft der Republik Moldau habe sich am Freitag, zwei Tage nach dem Tod seines Bruders, gemeldet und ihm die Nachricht überbracht. „Er sagte mir, dass es eine Art Konfrontation zwischen der Polizei und meinem Bruder gab und dass die Polizei ihn mit Pfefferspray besprüht hat. Er ist dann im Krankenhaus verstorben“, erzählt Ivan N. Mehr habe der Botschaftsmitarbeiter nicht gewusst.

Dass zwischen dem Todeszeitpunkt und dem Anruf bei der Familie ganze zwei Tage liegen, macht Ivan N. wütend. Dass er und Vitalis Familie kaum etwas erfahren darüber, wo sein Bruder jetzt ist, wie und warum er gestorben ist, beschreibt Ivan N. als „Horror“.

Vitali N. hatte nicht nur einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester, die in einem kleinen Ort im Süden Moldaus leben, sondern auch einen 15 Jahre alten Sohn. Er lebt mit seiner Mutter, Vitalis Ex-Frau, in Italien, erzählt der Bruder. In russischsprachigen sozialen Netzwerken hat Vitali N. Fotos gepostet: er mit Kleinkind auf dem Arm, er mit Kinderwagen, sein Sohn im Spiel mit anderen Kindern. Unter einem Bild, das seinen Sohn als Kleinkind zeigt, hat Vitali N. geschrieben: „Mein geliebter Sohn.“ Unter ein anderes, mit seiner Ex-Frau: „Meine Familie!“ Unter ein Foto hat jemand geschrieben: „Vitalik, du veränderst dich nicht, du bist immer positiv.“

Ivan N. beschreibt seinen Bruder als ruhigen, unauffälligen Menschen. Als einen, der selten Alkohol trank, weil er keinen vertrug. Auch der Bluttest in der Berliner Klinik, in die Vitali N. nach der Festnahme bewusstlos eingeliefert wurde, ergab: kein Alkohol, keine Drogen im Blut, Vitali N. war nüchtern. An­woh­ne­r:in­nen hatten erzählt, Vitali N. habe sich am Tag seiner Festnahme wie jemand verhalten, der Drogen genommen habe.

Sein Bruder habe viel gearbeitet, sagt Ivan N., vor allem, um seinen Sohn zu unterstützen. Dafür hat er Jobs im Ausland angenommen: Russland, Bulgarien, Deutschland. Das bestätigen Freun­d:in­nen von Vitali, die wir ebenfalls über russischsprachige soziale Netzwerke finden.

Was sie und Vitalis Bruder erzählen, ist die Geschichte eines Mannes, der wie viele Menschen aus Osteuropa aufbricht, um Geld für ein besseres Leben zu verdienen. In Russland arbeitet er als Mechaniker in einer Fleischfabrik, als Taxifahrer und als Vorarbeiter auf dem Bau. Später zieht er nach Bulgarien, um Autos zu überführen und zu reparieren, erzählt ein Freund aus Russland. Und: Vitali sei „ein sehr frommer Mensch“ gewesen. Mit­ar­bei­te­r:in­nen der Berliner Klinik fanden in seinem Portemonnaie ein Marienbild und einen Gewerbeschein, der Vitali als Trockenbauer auswies.

In Königs Wusterhausen hatte Vitali N. wahrscheinlich kaum Zeit anzukommen, bevor er starb. Der Verkäufer im Dönerrestaurant unweit seines Hauses sagt, er habe ihn in den letzten ein bis zwei Monaten häufiger hier gesehen. Er sei immer allein zum Essen gekommen. Eine Frau, die im selben Haus wohnt, sagt, sie sei Vitali N. am Tag der Festnahme zum ersten Mal begegnet.

Der Rasen vor dem Haus ist an diesem Mittwoch schon wieder ganz glatt. Nichts deutet auf den Polizeieinsatz hin, in dessen Folge ein Mensch gestorben ist.