Soziologe über positive Zukunftsideen: „Utopisch Denken braucht Training“

Angesichts der Krisen fällt es schwer, positive Zukunftsszenarien zu entwickeln. Warum das gerade jetzt wichtig ist, sagt der Soziologe Stefan Selke.

Die Erde vom WEltall aus gesehen, berühmte Aufnahme aus dem Jahr 1968

Zum ersten Mal war die Erde als Ganzes sichtbar, fragil und wunderschön, das Foto „Earthrise“ aus dem Jahr 1968 Foto: Bill Anders/NASA/epa

taz: Herr Selke, wir Menschen haben keine Probleme damit, uns die Apokalypse auszumalen. Warum fällt es uns so schwer, positive Bilder von der Zukunft zu entwerfen?

Stefan Selke: Menschen lieben Geschichten, sie lieben Dramen. Die Apokalypse, der Weltuntergang, ist das Drama schlechthin. Es gibt allein über 500 Varianten von der Sintfluterzählung, in allen Kulturkreisen. So ein richtig gutes Drama ist unterhaltsam und funktional. Und mit der Angst, die so eine Geschichte erzeugt, lassen sich Menschen auch gut lenken.

Utopien haben einen schlechten Ruf. Woran liegt das?

Es gibt eine weit verbreitete Angst vor der großen Utopie, und die ist im Grunde Angst vor der Ideologie. Das 20. Jahrhundert war die Zeit der gesellschaftlichen Großutopien, die dann ins Dystopische, ins Faschistische abgeglitten sind. Da will natürlich niemand wieder hin. Dennoch sollte wir diese Angst beiseitelegen und uns stattdessen trauen, utopisch zu denken. Denn eigentlich geht es bei der Utopie nicht um die Weltformel, sondern eher um visionären Pragmatismus. Um die Frage: Wie wollen wir diese unsere Welt, unsere Gesellschaft, gemeinsam gestalten?

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In Ihrem Buch „Wunschland“ klopfen Sie verschiedene utopische Projekte ab. Gibt es eines, von dem wir besonders viel lernen können?

Ich finde Monte Verità sehr inspirierend, eine Lebensreformgemeinschaft, die Anfang des 20. Jahrhunderts bei Ascona im Tessin entstand. Die Menschen, die dort um 1900 zusammenkamen, waren, wie wir heute, zivilisationsmüde und krisengebeutelt – aber es gab eben auch eine unglaublich positive Aufbruchstimmung. Die Lebensreformbewegung, die damals entstand, hatte sich zum Ziel gesetzt, wirklich alles neu zu denken: Ernährung, Landwirtschaft, Beziehungen, selbst Sprache. Das war ein Feuerwerk an Ideen, der Wahnsinn. Dieser Geist von Zukunftseuphorie, der begeistert mich sehr. Genau das brauchen wir heute wieder.

Jahrgang 1967, ist Soziologe, Transformationsforscher, Raumfahrttechniker und Hobbypilot. Sein Buch „Wunschland“ ist 2022 bei Ullstein erschienen.

Frei, gleich, gerecht: Träumen wir Menschen den immergleichen Traum? Wie schaffen wir eigentlich grundlegend Neues?

Utopien sind immer ein Spiegel dessen, was in einer Gesellschaft als Problem empfunden wird. Auch die persönlichen Erfahrungen der Gründer spielen durchaus eine Rolle. Henry Oedenkoven zum Beispiel hatte sich den Magen verdorben und hat dann in Monte Verità vegane Ernährung ausprobiert und propagiert. Andere arbeiteten sich am Kapitalismus ab, an Ausbeutung und Militarismus, die gaben sich dann pazifistische oder spirituelle Ziele. Wir sind alle geprägt, biografisch, geschlechtlich, kulturell. Das sind soziale Konventionen, die wir nicht von heute auf morgen ablegen, das muss man sich systematisch abtrainieren.

Was halten Sie von Projekten wie „Neom“ in Saudi-Arabien, wo mitten in der Wüste eine neue Hightech-Stadt entstehen soll? Hat das für Sie utopischen Wert?

„Neom“ ist in meinen Augen eher ein Negativbeispiel, ähnlich wie all die geplanten Unterwasserstädte. Alles, was elitär, privilegiert und exkludierend ist, ist per se nicht utopisch. Das sind keine Blaupausen für eine gelingende Zukunft, sondern Survival-of-the-richest-Strategien. Es braucht unendlich viele Ressourcen, damit diese Leute da in ihrem klimatisierten Luxushabitat ein antiseptisches Leben genießen können. Insgesamt ist das eher ein Ansatz von „future by disaster“ als „future by design“.

Was meinen Sie damit?

Mit „future by disaster“ meine ich, dass Welten als Reaktion auf externen Druck entworfen werden, angstgetrieben. „Neom“ ist da ein gutes Beispiel: Das saudische Regime befürchtet, dass bald das Öl ausgeht, und sucht nun mit allen Mitteln nach Wegen, Geld ins Land zu bringen. Auch die Pläne für die „Ocean Spiral City“, eine Unterwasserstadt vor der Küste Japans, entstehen „by disaster“: In diesem Fall ist es die Angst vor Tsunamis und Erdbeben, die die Menschen treibt. Mit wirklicher Veränderung, mit positiver Entwicklung von Gesellschaft hat das nichts zu tun. Gerettet werden immer nur die Eliten.

Angesichts der vielen Krisen fühlen sich viele Menschen unfähig, positive Zukunftsszenarien zu entwickeln. Sie sprechen von „Zukunftsarmut“.

Ja, mittlerweile belegen empirische Studien dieses Phänomen. Die Sinus-Milieustudie 2022 zum Beispiel hat gezeigt: Nur 35 Prozent aller Teenager in Deutschland schauen optimistisch in die Zukunft. Die junge Generation hat nicht mehr das Gefühl, die Welt mitgestalten zu können. Eigentlich müsste es da einen medialen Aufschrei geben, aber der bleibt bislang aus. Ich meine: Transformation ist ja nichts anderes als der Glaube daran, dass die Welt gestaltbar ist und dass man selbst einen Beitrag leisten kann. Und der kommt uns langsam, aber sicher abhanden.

Die Welt verändert sich derzeit rasend schnell. Wis­sen­schaft­le­r*in­nen und Po­li­ti­ke­r*in­nen fordern Anpassung, zum Beispiel an die Klimakrise.

Und genau das halte ich für grundfalsch. Anpassung ist zum neuen Leitmotiv geworden, und das kann fatale Folgen haben. Denn Anpassung bedeutet Stillstand. Da wird dann ein sogenannter Normalzustand als alternativlos vorausgesetzt. Wir nehmen bestimmte Wirtschaftsverhältnisse und gesellschaftliche Konventionen als gegeben hin und denken überhaupt nicht mehr in Alternativen.

Sie sprechen selbst von „erschöpften Gesellschaften“. Das macht es schwer, utopisch zu denken. Wie kommen wir da raus?

Wir brauchen neue Vorbilder und starke Symbole. Und wir brauchen gute Geschichten von einer erstrebenswerten Zukunft. Bilder können immense Kräfte freisetzen. Denken Sie nur an die Fotografie „Earth­rise“. Das berühmte Foto, das aus der Perspektive eines Astronauten zeigt, wie über dem Mond die Erde aufgeht.

Das Bild wurde auf dem Flug von Apollo 8 aufgenommen, im Jahr 1968. Es hat Geschichte geschrieben.

Dieses Foto ging um die Welt, und es hat unglaubliche Wirkung entfaltet. Zum ersten Mal war die Erde als Ganzes sichtbar, fragil und wunderschön und umgeben von unendlichem Raum. „Earthrise“ hat erstmals ein planetares Bewusstsein geschaffen. Dieses Bild der Nasa hat die Umweltbewegung inspiriert und unglaublich viel Engagement angestoßen.

Brauchen wir ein neues Bild dieser Art, um einen neuen historischen Ruck zu erzeugen?

Das wäre großartig. Ich denke viel darüber nach, was für ein Bild das sein könnte. Vor allem aber denke ich: Utopisches Denken braucht Training, wir müssen üben. Und wir sollten Räume schaffen, wo das angstfrei möglich ist und sogar gefördert wird. Da sind die Bildungseinrichtungen gefragt, aber auch Unternehmen und Institutionen. Wir brauchen Summer Schools, Workshops, in denen wir die Frage stellen: Können wir uns Alternativen vorstellen? Und das nicht nur rein kognitiv. Wir müssen Bilder schaffen, an denen wir emotional beteiligt sind. Wir brauchen das Gefühl, dass es Freude macht, über die Zukunft nachzudenken. Aufbruchstimmung! Zukunftseuphorie ist der soziale Treibstoff für Veränderung.

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