Hass und Gewalt eskalieren vor den Augen der Weltgemeinschaft

In Kongo mehren sich brutale Morde an der Volksgruppe der Tutsi. Beobachter fühlen sich an den Völkermord in Ruanda erinnert, der am 7. April 1994 seinen Anfang nahm. Menschenrechtler mahnen, die Lage ernst zu nehmen

Anti-Ruanda-Demo in Goma, Kongo. Die ruandische Armee unterstützt die kongole­sischen Tutsi-Rebellen Foto: Michel Lunanga/afp/getty

Aus Kampala Simone Schlindwein

Selbst zur Autowerkstatt zu gehen, kann lebensgefährlich sein“, berichtet ein Tutsi, der in Kongos Hauptstadt Kinshasa lebt, am Telefon. Sein Name muss geheim bleiben. Er hat Drohungen erhalten, wagt sich kaum aus dem Haus: „Ich bin sehr groß, ich sehe anders aus.“ Deswegen hätten ihn die Automechaniker als „Ruander“ beschimpft. Ein Mob habe sich zusammengerottet. Dabei sei er gebürtiger Kongolese.

Fast täglich erreichen die taz grausige Fotos, Videos oder Nachrichten von Tutsi aus der Demokratischen Republik Kongo: Enthauptete und verstümmelte Leichen im Gras, gefesselte und misshandelte Männer zusammengepfercht in einem Loch. Auf einem Video aus Kalima in der Provinz Maniema liegt ein Mensch nackt auf dem Boden, er wird von einer Meute junger Männer mit Macheten verstümmelt. Auf dem nächsten Video stopft sich einer der Männer einen Fetzen Fleisch in den Mund und sagt: „Wir essen die Ruander mit Ugali.“ Ugali ist eine Art Maisbrei.

Die Grausamkeiten erinnern viele an den Völkermord in Ruanda 1994, als in 100 Tagen rund eine Million Tutsi abgeschlachtet wurden. Die UN-Sonderbeauftragte zur Genozidprävention, Alice Wairimu Nderitu, erklärte Ende 2022 nach einer Kongo-Reise, sie sei „zutiefst beunruhigt“. Die aktuelle Gewalt sei ein „Warnsignal“, dass sich „Hass und Gewalt in großem Stil in einem Völkermord entladen“.

Aus Sicht des belgischen Menschenrechtsanwalts Bernard Maingain, der Tutsi-Gewaltopfer vertritt, sind radikale Akteure in Kongos Staatsorganen direkt verantwortlich. Er nennt Beispiele von Polizeikommissaren, die öffentlich zu Massentötungen an Tutsi aufriefen und anschließend befördert wurden. Gegen diese hat er Klage eingereicht. „Bis heute gibt es keine offizielle Stellungnahme der Regierung dazu“, sagt er und warnt: „Das Risiko nicht nur eines langfristigen Genozids, sondern einer sehr kurzfristigen Explosion von Gewalt ist sehr, sehr hoch.“ Wenn Kongos Justiz seine Klagen nicht aufnehme, werde er sich an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wenden.

„Der Völkermord ist schon in vollem Gange“, sagt David Karambi, Vorsitzender der Tutsi-Gemeinschaft in Goma, Hauptstadt der an Ruanda angrenzenden ostkongolesischen Provinz Nord-Kivu. Fast täglich müsse er seine Liste der Attacken aktualisieren. Erst am Vorabend hätten Militärgeheimdienstler in Goma eine Bar gestürmt, in welcher Tutsi gerne Bier trinken. Am Tag zuvor seien 34 Tutsi im Distrikt Masisi westlich von Goma verschleppt worden und seien spurlos verschwunden.

„Von all diesen Taten geht die Botschaft aus: ‚Wir wissen, wo ihr seid!‘“, sagt Karambi. Ob Restaurants, Bars, Kirchen, Supermärkte – überall dort, wo sich Tutsi gewöhnlich treffen, sei die „Menschenjagd“ eröffnet.

Verantwortlich dafür sieht Karambi, wie auch der Menschenrechtsanwalt Maingain, zu einem guten Teil die Staatsorgane. Der Militärgeheimdienst verhafte sogar Tutsi-Offiziere der Armee, aber er sei „noch nicht bereit, systematische Tötungen selbst durchzuführen“. Das täten lokale Milizen. Kongos Regierung rief vergangenes Jahr die Bevölkerung auf, sich für die Landesverteidigung zu rüsten. Damals rückte die Tutsi-geführte Rebellenarmee M23 (Bewegung des 23. März) auf Goma vor. Lokale Milizen bekamen von der Armee Waffen und Uniformen.

Das geschah zeitgleich mit dem neuen Eroberungsfeldzug der M23 im Ostkongo. Die 2012 gegründete Tutsi-Rebellenarmee trat im November 2021 erneut in Aktion und eroberte große Teile der Provinz Nord-Kivu. Es sind nur rund 1.000 Kämpfer, aber sie sind schlagkräftiger als Kongos Armee. Aus Kongos Hauptstadt Kinshasa hieß es sofort: Ruandas Armee ist einmarschiert.

„Ihr Ruander, geht nach Hause!“, hieß es in Hass-Videos. Es kam zu Angriffen gegen Tutsi. In Goma plünderten Jugendliche Läden, randalierten in einer Kirche. Am Ende musste Kongos Verteidigungsrat, der Präsident Félix Tshisekedi untersteht, die Regierung zu „Maßnahmen zur Vermeidung von Stigmatisierung und Menschenjagd“ auffordern. Tshisekedi traf Tutsi-Vertreter in seinem Amtssitz und versicherte ihnen, er wolle, dass alle Ethnien in „Harmonie und ohne Diskriminierung“ leben können.

Doch Verhandlungen mit der M23 lehnt Tshisekedi strikt ab, er beschimpft sie als „Terroristen“. Stattdessen greift die Armee im Kampf gegen die Rebellen auf die Hilfe der ruandischen Hutu-Miliz FDLR (Demokratische Kräfte zur Verteidigung Ruandas) zurück: Eine Gruppierung, die von Tätern des ruandischen Völkermordes geführt wird, die sich nach dem Massenmord an den Tutsi in ihrer Heimat Ruanda 1994 im Kongo versteckten.

„Sie leugnen, dass sich eine Art lokaler Groll und lokaler Frust in dieser Bewegung namens M23 verbirgt“, kritisiert Historiker Aloys Tegera Kongos Regierung. Er ist Tutsi aus den Masisi-Bergen und lebt im Exil. Für ihn gehen die Ursprünge der Diskriminierung auf die Kolonialzeit zurück, als die belgischen Kolonialherren auf Landkarten ethnische Gruppen einzeichneten, aber die Tutsi unerwähnt ließen. Auf dieser Grundlage argumentieren Hassprediger seitdem, die Tutsi seien keine Kongolesen, sondern Ruander.

Die Motivation der M23 ist von der Geschichte der Diskriminierung der Tutsi nicht zu trennen, die M23-Präsident Bertrand Bisimwa im taz-Interview so darstellt: „Die Weigerung der Regierung, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die sichere Rückkehr unserer Flüchtlinge zu gewährleisten, deren Staatsbürgerschaft sie ihnen unter dem Vorwand verweigert, sie seien Ausländer.“

Wenn man heute die M23 nach ihrer Motivation fragt, dann ist die Antwort meist: „Ich will nach Hause auf unsere Farm, zu unseren Kühen.“ Die M23 sind Söhne und Töchter der Großgrundbesitzer aus Masisi, die einst ihre Almen und Herden zurücklassen mussten, um ihre Leben zu retten.

Denn Ruandas Hutu-Armee, die 1994 den Völkermord an den Tutsi organisiert hatte, floh nach ihrem Machtverlust in Ruanda nach Kongo, damals noch Zaire. Die Völkermörder wollten sich dort reorganisieren, um Ruanda zurückerobern. Vor ihnen flohen kongolesische Tutsi-Familien nach Ruanda.

Die meisten M23-Kämpfer wuchsen in Flüchtlingslagern in Ruanda auf, gingen dort zur Schule und zur Universität. Viele haben die ruandische Staatsbürgerschaft oder dienten gar in Ruandas Armee. Doch sie sehen sich als Kongolesen. Immer wieder formierten sie Rebellenarmeen, um ihre Heimkehr mit der Waffe zu erzwingen. Die M23 ist die jüngste davon.

Ruanda Am 7. April 1994 beginnen Armee und Hutu-Milizen in Ruanda, alle Tutsi außer Landes zu jagen und zu töten. Über eine Million Menschen sterben, bis die Tutsi-Guerilla RPF (Ruandische Patriotische Front) Ruanda erobert und das für den Völkermord verantwortliche Hutu-Regime nach Kongo (damals Zaire) verjagt.

Kongo 1996 marschiert Ruandas RPF-Armee in Zaire ein, stürzt die Regierung und bekämpft die geflohene Hutu-Völkermordarmee. Deren Anführer verbünden sich 1998 mit Kongos Regierung und gründen die Miliz FDLR (Demokratische Kräfte zur Befreiung Ruandas), die sich ab 2003 in Ostkongo festsetzt. Zur Selbstverteidigung haben Kongos Tutsi eigene Rebellengruppen gegründet, zuletzt 2012 die M23 (Bewegung des 23. März), die jetzt wieder Krieg führt. (taz)

2022 nahmen Übergriffe gegen die verbliebenen Tutsi in den Masisi-Bergen dramatisch zu. Ende November 2022 verkündete Milizenführer Jean Buingo Karairi bei einer Parade in seiner Hochburg Kitchanga: Er werde der Armee helfen, Kongo gegen Ruanda zu verteidigen und zur „Auslöschung“ der Tutsi beitragen. Seine Zuhörer jubelten.

Selbst die Rinderherden der Tutsi-Farmer rund um Kitchanga bleiben seither nicht verschont. Auch davon gibt es Videos: Kälber mit durchgeschnittener Kehle; Kühe, denen man die Achillessehnen durchtrennt hat und die qualvoll im Gras verenden. „Die Rinder sind unsere finanzielle Absicherung“, erklärt der Sohn eines kongolesischen Tutsi-Farmers. „Wir verkaufen Kühe, um davon unsere Mieten zu zahlen, die Schulgebühren unserer Kinder.“ Er lebt seit seiner Jugend in Ruanda, die Farm seiner Eltern in Masisi verwaltet ein Freund aus einer anderen Volksgruppe. „Unsere Rinder zu töten, soll uns im Exil finanziell zerstören.“

Bis heute leben in Ruanda rund 72.000 Flüchtlinge aus Kongo, fast alles Tutsi. Manche sitzen seit 1996 in Lagern. Und die Zahlen steigen wieder. Von November 2022 bis Februar 2023 flohen nach amtlichen ruandischen Angaben 4.300 kongolesische Tutsi nach Ruanda.

Ruandas Armee, die aus der Tutsi-Guerilla RPF heraus entstand, fühlt sich gegenüber den M23-Kämpfern wie ein „großer Bruder“. Man kennt sich, man hat dieselbe traumatische Vergangenheit, dieselbe Ausbildung, dieselben Feinde: die Völkermordtäter von 1994, die heutige FDLR. Vor diesem Hintergrund ist Ruandas Unterstützung ein offenes Geheimnis. Die M23 will ihre Heimat zurück, Ruandas Armee will ihre Erzfeinde kampfunfähig machen.

Im Januar demonstrierten kongolesische Tutsi-Flüchtlinge in Ruandas Lagern. Sie malten Plakate: „Stoppt den Völkermord!“ Kongolesische Flüchtlinge in Kigali reichten bei den Botschaften Frankreichs, Belgiens und Großbritanniens eine Petition ein, in der sie um internationale Hilfe baten, um die Verfolgung und Tötung der Tutsi im Kongo zu stoppen und ihnen eine Möglichkeit zur Heimkehr zu eröffnen.

UN-Mission bleibt passiv

Doch im Gespräch mit westlichen Diplomaten muss die taz immer wieder feststellen, wie schwer es diesen fällt, die komplexe Gemengelage in ihrer historischen Tiefe zu verstehen. Die UN-Mission im Kongo (Monusco) wurde in jüngster Zeit selbst zum Ziel aufgehetzter Kongolesen, sie verhält sich auffällig passiv. Dabei ist es ihre Aufgabe, Zivilisten zu schützen.

„Die internationale Gemeinschaft und insbesondere die UN haben in ihrer Reaktion auf die Drohungen gegen die kongolesischen Tutsi ein hohes Maß an Widersprüchlichkeit gezeigt“, mahnt Bojana Coulibaly. Die Sprachwissenschaftlerin aus den USA erforscht den Konflikt und sie findet es auffällig, dass in „allen“ Monusco-Berichten seit Juni 2022 „absichtlich jegliche Sprache entfernt“ worden sei, die sich „auf gezielte Gewalt und Hassreden gegen die kongolesischen Tutsi bezieht“. Dies entspräche einer „Leugnung des Völkermords, wie wir es 1994 in Ruanda gesehen haben“.

Ruandas Außenminister Vincent Biruta beschuldigt die Weltgemeinschaft, Warnsignale eines „geplanten Völkermords“ heute wieder nicht ernstzunehmen: Das liege daran, so Biruta, „dass es mit der Verantwortung einhergeht, einzugreifen und ihn zu stoppen“.