Warnungen nach dem Haftbefehl für Putin

Wegen Deportation ukrainischer Kinder hat der Internationale Strafgerichtshof gegen Russlands Präsident Haftbefehl erlassen. Wer wird ihn vollstrecken?

Von Dominic Johnson
und Christian Rath

Nach der Ausstellung eines Haftbefehls gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin durch den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag hat eine Debatte über seine Vollstreckung begonnen. Alle 123 IStGH-Vertragsstaaten sind nunmehr völkerrechtlich verpflichtet, Putin festzunehmen, sollte er jemals ihr Staatsgebiet betreten.

„Ich rechne damit, dass der IStGH zügig auf Interpol sowie die Vertragsstaaten zugehen und sie um Vollstreckung ersuchen wird“, sagte Bundesjustizminister Buschmann (FDP). „Deutschland ist dann verpflichtet, Präsident Putin, wenn er deutsches Territorium betritt, zu inhaftieren und an den IStGH zu übergeben.“

In Russland nannte Kremlsprecher Dmitri Peskow den Haftbefehl „unverschämt und inakzeptabel“ und „vom rechtlichen Standpunkt unbedeutend“. Russische soziale Netzwerke äußerten Drohungen. „Wenn unser Präsident Deutschland besuchen muss, wird also als Erstes ein russischer Soldat den Fuß auf seinen Boden setzen“, warnte ein Kommentator.

Südafrika ließ vorerst offen, was passieren könnte, wenn Putin wie erwartet ab 22. August zum 15. Staatengipfel der BRICS-Schwellenländer (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) nach Johannesburg reist. Man nehme den Haftbefehl „zur Kenntnis“, sagte ein Sprecher von Präsident Cyril Ramaphosa: „Wir als Regierung sind uns unserer rechtlichen Verpflichtung bewusst. Bis zum Gipfeltreffen werden wir jedoch mit den verschiedenen relevanten Akteuren in Kontakt bleiben.“ Im Jahr 2017 war Südafrika unter Ramaphosas Vorgänger Jacob Zuma international heftig kritisiert worden, weil es Sudans damaligen Präsidenten Omar Hassan al-Bashir, der zu einem Gipfel angereist war, trotz IStGH-Haftbefehls und einer richterlichen Anordnung zu seiner Vollstreckung hatte ausreisen lassen.

Der IStGH legt Putin rechtswidrige Deportation und Bevölkerungstransfers zur Last. Die Ukraine wirft Russland vor, 16.000 ukrainische Kinder aus den besetzten Gebieten nach Russland verschleppt zu haben; Russland stellt die Transfers als Rettung aus Kriegsgebieten dar. Laut IStGH sind Putin und die Kinderbeauftragte des russischen Präsidialamtes, Maria Alexejewna Lwowa-Belowa, individuell für diese Verbrechen verantwortlich – als direkte Beteiligte sowie, im Falle Putins, als Befehlshaber. Berichten zufolge organisiert Lwowa-Belowa die Verbringung ukrainischer Kinder nach Russland und wirbt im Fernsehen dafür, dass russische Eltern sie adoptieren sollen. Putin habe hierzu im Mai 2022 ein Dekret erlassen.

Den Haftbefehl stellte eine Vorverfahrenskammer des IStGH am vergangenen Freitag aus. Der britische IStGH-Chefankläger Karim Khan hatte ihn am 22. Februar beantragt. Das Dokument bleibt unter Verschluss, „um Opfer und Zeugen zu schützen“, wie die Kammer mitteilt; aber man gebe seine Existenz „im Interesse der Gerechtigkeit“ bekannt.

Khan ermittelt seit Anfang März 2022 zur „Situation in der Ukraine“. Weder die Ukraine noch Russland haben zwar das Statut des IStGH unterzeichnet. Allerdings hat sich die Ukraine in zwei Erklärungen von 2014 und 2015 der Rechtsprechung des IStGH für alle Verbrechen ab November 2013 unterworfen. Damals ging es um die Maidan-Revolution, die russische Annexion der Krim und den Krieg im Donbass. Nach Beginn des russischen Überfalls am 24. Februar 2022 hatten Dutzende Staaten den Gerichtshof aufgefordert, die Ermittlungen auf den neuen Krieg auszuweiten.

„Deutschland ist verpflichtet, Präsident Putin, wenn er deutsches Territorium betritt, zu inhaftieren“

Marco Buschmann, Bundesjustizminister

Der britischen Sunday Times sagte Khan, er hoffe, mit seinem Schritt der Parole „Nie wieder“ gerecht werden zu können. „Wir sind so oft gescheitert“, sagte er. „Wenn wir nicht zeigen können, dass in einer Welt am Abgrund die internationale Justiz eine Rolle spielen kann, wird es kein Vertrauen in internationale Institutionen geben.“

Selbst wenn Putin nicht verhaftet werde, so Khan weiter, ermöglichten die Haftbefehle ein Vorverfahren, das die Vorwürfe gegen den russischen Präsidenten auch in seiner Abwesenheit prüfen und bestätigen könne – gegen den flüchtigen ugandischen Rebellenführer Joseph Kony hat der IStGH dieses Prozedere vor wenigen Monaten zugelassen.

Putin selbst besuchte am Samstag die besetze Krim sowie die von russischen Truppen vor einem Jahr in Schutt und Asche gelegte ukrainische Stadt Mariupol, aus der allein mindestens 1.000 Kinder nach Russland verschleppt worden sind. TV-Aufnahmen zeigten, wie er eine Wohnung besuchte und mit ein paar Menschen sprach. Ein öffentlicher Auftritt ist nicht überliefert. Der Besuch, an dessen Echtheit ukrainische Kommentatoren zweifelten, erfolgte fast auf den Tag genau ein Jahr nach der russischen Bombardierung eines mit Schutzsuchenden gefüllten Theaters, bei der mehrere hundert Menschen starben, darunter viele Kinder – obwohl mit großen Buchstaben das russische Wort für „Kinder“ auf das Dach gemalt war. In mehreren ukrainischen Städten gab es am 16. März Gedenkveranstaltungen für die Kinder von Mariupol.