Streitbare Pazifistin mit dem Willen zum Dialog

Sie gehörte der ersten Bundestagsfraktion der Grünen an und war die erste Grüne im Bundestagspräsidium. Jetzt ist Antje Vollmer im Alter von 79 Jahren gestorben

Von Jan Feddersen

Nie war sie ihrer Partei ferner als in jüngster Zeit, vor allem seit dem militärischen Überfall Russlands auf die Ukraine. In einem Text, den die Berliner Zeitung kürzlich veröffentlichte und den sie, im Angesicht ihres nahenden Todes formuliert, als „Vermächtnis“ verstanden wissen wollte, schreibt Vollmer zum Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 bitter: „Wir befanden uns also wieder im Kalten Krieg in einer Spirale der gegenseitigen existenziellen Bedrohung – ohne Ausweg, ohne Perspektive. Alles, wogegen ich mein Leben lang politisch gekämpft habe, war mir in diesem Moment präsent als eine einzige riesige Niederlage.“

Keine Frage, für Vollmer war der verbrecherische Krieg Putins in der Ukraine eine Katas­trophe, politisch, vor allem persönlich: Gerade sie hatte sich immer für Verständigung, für Aussöhnung, für die Wahl friedlicher Mittel zur Konfliktlösung eingesetzt. Und hierin wusste sie sich einig mit ihrer Partei, zu deren Einflussgrößten sie über die meisten Jahre des grünen Anfangs zählte. Dass sich die Grünen für Waffenlieferungen an die wehrhaften Menschen in der Ukraine einsetzen, war dabei ein Weg, dem sie nicht mehr folgen konnte.

Antje Vollmer verdient einen sehr prominenten Platz in der Hall of Fame der grünen Bewegung

Antje Vollmer, 1943 in Lübbecke, Westfalen, geboren, christlich geprägt, mit einem starken Hauch von moralischer Strenge, studierte Theologie, war Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes. Sie arbeitete in verschiedenen evangelischen Einrichtungen und war nicht nur nebenher in der „Liga gegen den Imperialismus“ aktiv, einem Verein im Umfeld der maoistischen KPD/AO, der wohl bürgerlichsten K-Gruppe im Spektrum der linksradikalen Szenen. Zu Beginn der achtziger Jahre näherte sich Vollmer, wie viele einstige Ge­nos­s*in­nen, den frisch zur politischen Welt gekommenen Grünen an, 1983 zog sie gar, zunächst als Parteilose, erstmals für sie in den Bundestag ein. In der Grünenfraktion war sie es wesentlich, die 1984 das erste Feminat durchsetzte: Alle Leitungsposten wurden ausschließlich von Frauen besetzt. Sie, die schon damals sendungsbewusste Jungpolitikerin, mittendrin.

Antje Vollmer verstand sich immer als Kritikerin der bis dahin existierenden „Systeme“. Im Privaten mochte ihr intensiver Zug ins Antikommerzielle, in heftigem Widerwillen gegen jedes Unterhaltsame auffällig sein, auch ihr kühler Blick auf die angeblichen Errungenschaften des realen Sozialismus sowjetischer Prägung darf nicht unerwähnt bleiben. Sie wollte eine Welt der Abrüstung, des Verzichts auf Feindstiftungen. Sie stand für den unbedingten Willen zum Gespräch, zur Vermittlung, zur Berücksichtigung, wenn man so will, für die Nutzung aller Versöhnungschancen. Lieber eine weitere Wange dem Schläger hinhalten, darauf vertrauend, dass allzu heftige Gegenwehr nur noch wehrloser mache – und dass es Friedensoptionen gibt. Sie hat früh das politische Gespräch auch mit Leuten aus der Union gesucht, denn es seien Parlamentskolleg:innen, keine Feinde, so Vollmer. Rot-Grün war ihr allenfalls eine Option, habituell standen ihr Liberale und Liberalkonservative durchaus näher – Menschen, die die Blicke des Gegenübers mit einbrachten. Vollmer wurde, auch im Unionslager anerkannt, wurde 1994 zur ersten grünen Bundestagsvizepräsidentin.

Als die bundesdeutschen Grünen 1990 bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen aus dem Bundestag flogen, fand Antje Vollmer einige Monate berufstätiges Exil in der taz – als Inlandsredakteurin. Im taz-Archiv sind eine Fülle ihrer Texte gerade aus jener Zeit zu finden. Erkennbar wird bei der nochmaligen Lektüre: Vollmers politische Interventionen sind kaum zu zählen. Gegen die Schwarze Pädagogik der Heimerziehung in der Bundesrepublik bis in die siebziger Jahre – und für ihre Aufarbeitung in einer Sonderkommission; für den Kampf gegen die Diabolisierung des politischen Terrorismus – und für einen Dialog mit den inhaftierten Mitgliedern der RAF zur Beendigung terroristischer Gewalt. Ihre Helden: Vaclav Havel, der tschechoslowakische Bürgerrechtler und spätere Präsident der tschechischen Republik, vor allem aber Michail Gorbatschow, der Kommunist, der seine Sowjetunion, ökonomisch und moralisch in jeder Hinsicht vor dem Bankrott, zur Implosion mit brachte.

In ihrer Partei war Antje Vollmer seit Längerem nicht mehr so wohlgelitten, verkörperte sie doch die Ideale der grünen Gründerzeit Foto: Reinhard Janke/argus

Generell lautete ihr Credo: Man müsse die Gründe für alles menschliche Tun verstehen – und das schaffe man nicht, wenn man nur in den Freund-Feind-Modus schalte. Ihre womöglich größte Ehre war der 2003 durch Vaclav Havel verliehene Tomáš-Garrigue-Masaryk-Orden der Tschechischen Republik für ihre Verdienste um die Aussöhnung mit diesem Nachbarland.

Sie war eine strikte Pazifistin, wandte sich gegen den Nato-Krieg gegen das restjugoslawische Milošević-Regime wie auch gegen den Afghanistankrieg. Zuletzt gehörte sie zu den Erst­un­ter­zeich­ne­r*in­nen von Sahra Wagenknechts und Alice Schwarzers „Manifest für Frieden“. Mit anderen Worten: Sie war in ihren beiden letzten Lebensjahrzehnten mehr und mehr zu einer diasporischen Figur in ihrem grünen Umfeld geworden. Ihre Partei hat ihr sehr viel zu verdanken – und sei es Vollmers Leistung, den einstigen Schmuddelkindern der Politik zu einer gewissen Respektabilität in der politischen Arena verholfen zu haben. Sie verdient einen sehr prominenten Platz in der Hall of Fame der grünen Bewegung. Am Mittwoch ist sie im Alter von 79 Jahren gestorben.