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„Der weibliche Blick kommt von unten“

Sandra Kegel hat für den Band „Prosaische Passionen“ 101 Short Stories von Schriftstellerinnen und Dichterinnen der literarischen Moderne versammelt. Heute stellt sie das Buch in Hamburg vor

Interview Josephine von der Haar

taz: Frau Kegel, was macht die „weibliche Sicht auf die Welt“, die in den Kurzgeschichten dargestellt wird, aus?

Sandra Kegel: Naja, es wird ja seit langem diskutiert, ob es eigentlich einen spezifisch weiblichen Blick gibt. Darüber haben sich viele Theoretikerinnen den Kopf zerbrochen und sind am Ende zu keiner Antwort gekommen. Ich glaube, es ist schon so, dass Frauen durch die Position, die sie in der Gesellschaft innehatten, keinen totalitären Anspruch an das Schrei­ben hatten. Das gilt insbesondere für die vorletzte Jahrhundertwende, in der die Texte ja erschienen sind. Und ich glaube, dass ein weiblicher Blick – auch wenn das jetzt sehr verkürzt ist – einer ist, der von unten kommt, aus einer etwas anderen, etwas verletzlicheren Perspektive.

Worum geht es in den Texten?

Die Frauen hatten den Anspruch, ihre Geschichten zu erzählen. Sie wollten selbst schreiben und sich nicht beschreiben lassen. Sie schreiben über Themen, die spezifisch weiblich sind, aber es geht auch weit darüber hinaus. Die Texte befassen sich auch mit Themen wie Rassismus, Klassismus. Das fand ich wahnsinnig spannend, weil wir diese Themen ja heute immer noch diskutieren.

Kann man heute noch von einem spezifisch weiblichen Blick sprechen?

Lesung und Gespräch: Di, 28. 2., 19.30 Uhr, Literaturhaus Hamburg (sowie im Stream: https://streaming.reservix.io/e2037218)

Sandra Kegel (Hg): „Prosaische Passionen. Die weibliche Moderne in 101 Short Stories. Übersetzungen aus 25 Weltsprachen“, Manesse, 928 S., 40 Euro

Ja, das würde ich schon sagen. Die Themen unterscheiden sich nach wie vor. Frauen befassen sich mit häuslichen Themen, die Männer einfach nicht anfassen würden und mit Beziehungsthemen, die Männer nicht in der Weise interessieren. Das ist jetzt alles pauschal, aber in der Themenauswahl gibt es dennoch ein spezifisches weibliches Spektrum und auch in dem Blick auf die Welt.

Was macht die Short Story für eine Anthologie zur weiblichen Moderne interessant?

Auf der kurzen Strecke darf man sich keine Fehler erlauben, man kann sich nicht verstecken. Die Short Story ist immer angreifend, sie geht immer gegen die herrschenden Verhältnisse, sie hat ein total revolutionäres Potenzial. Deswegen finde ich diese Form grundsätzlich interessant. Frauen können dieser Form offenbar viel abgewinnen, sie haben eine besondere Affinität zu dieser Form.

„Die Short Story geht immer gegen die herrschenden Verhältnisse, sie hat ein revolutionäres Potenzial“

Nach welchen Kriterien haben Sie die Texte ausgewählt?

Mich hat an dieser Arbeit so gereizt, nicht einfach die großen Ikonen zu vereinen. Ich wollte zeigen, was damals alles los war – und zwar überall auf der Welt. Selbst wenn heute in Verlagen und Jurys Frauen sitzen, sobald man in die Vergangenheit schaut, sieht man, dass der Kanon ganz viel aussortiert hat. Und das muss jetzt nachgearbeitet werden. Deswegen ist diese Anthologie ein Angebot, den Kanon zu verändern und zu erweitern. Es war aber auch ein Auswahlkriterium – neben dem Anspruch, Frauen abzudrucken – dass es literarische Texte sein sollen. Diese Texte zu finden, war nicht leicht. Es war für mich auch eine Art Feldforschung.

Sandra Kegel

52, war Redakteurin für Literatur und Literarisches Leben in der F.A.Z. Seit Oktober 2019 ist sie Ressortleiterin des Feuilletons. Sie gehört zur Kritikerrunde der 3sat-Sendung „Buchzeit“ und wurde mit dem Ravensburger Medienpreis ausgezeichnet.

Viele Texte sind wahrscheinlich in Archiven gar nicht unbedingt zu finden.

Nein, die Frauen haben ja in äußerst prekären Verhältnissen gelebt oder sie hatten einen Mann und mussten sich dann um Kinder und den Haushalt kümmern. Also den berühmten Room of Ones Ownhatten sie nicht. Auch deshalb haben sie Kurzgeschichten geschrieben. Außerdem hatten sie keine Publikationsmöglichkeiten, weil sie an den Gatekeepern in den großen Verlagen nicht vorbeikamen. Durch die veränderten Produktionsbedingungen entstanden aber viele neue Magazine. Denen waren diese Autorinnen ganz willkommen. So sind viele Texte in Magazinen erschienen. Zum Teil in ganz berühmten wie der Vogue,aber zum Teil eben auch in Magazinen, die heute in keiner Bibliothek mehr zu finden sind. Deswegen können Le­se­r*in­nen in dem Buch große Entdeckungen machen.

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