Der Begriff „Freiheit“: Wörter sollten keine Sündenböcke sein

Wer glaubt, Freiheit verkomme zur Floskel, sollte definieren, was mit dem Begriff gemeint ist. Denn die aktuelle Debatte hat Denkfehler.

zwei Kescher

Ist der Begriff „Freiheit“ nur noch eine Floskel? Foto: Iris Loonen/plainpicture

Zwei Journalisten ernannten an Neujahr „Freiheit“ zur Floskel des Jahres und erzeugten damit eine Aufregungsdynamik, in die sich sogar Justizminister Marco Buschmann einmischte.

Da stellt sich die Frage: Warum wird so erbittert über Freiheit gestritten, wenn sich doch alle einig sind, dass Freiheit etwas Gutes ist? Das hat zwei Gründe. Der erste hat etwas mit Sprachmystik zu tun, der zweite damit, dass das Wort Freiheit vielfach mehrdeutig ist. Daher reden alle von Freiheit und dennoch aneinander vorbei, oft ohne es zu merken. Aber der Reihe nach.

Die Begründung auf der Website Floskelwolke lautet: „Ich, ich, ich! Der Freiheitsbegriff wird entwürdigt von Egoman*innen, die rücksichtslos demokratische Gesellschaftsstrukturen unterwandern. Im Namen der Freiheit verkehren sie selbstgerecht und unsolidarisch die essenziellen Werte eines Sozialstaates ins Gegenteil – alles für den eigenen Vorteil.“

Moralische Abkürzung

Diese Einschätzung offenbart gleich drei Denkfehler. Erstens kann man Begriffe nicht „entwürdigen“, sie sind keine Personen oder politischen Symbole. Zweitens würde niemand bezweifeln, dass es moralisch falsch ist, rücksichtslos, selbstgerecht und unsolidarisch zu sein. Doch Aussagen, denen niemand ernsthaft widerspricht, sind Plattitüden, um nicht zu sagen Floskeln.

Die beiden Journalisten verraten uns nicht, wer die Egomanen sind und woran man deren hinterhältigen Gebrauch des Wortes Freiheit erkennen kann. Das führt zum dritten Denkfehler: Offenbar wollten die Floskelwolker eine bestimmte politische Haltung kritisieren und haben das Wort Freiheit als Stellvertreter benutzt.

Progressive Sprachkritik ist immer mal wieder gerechtfertigt, aber oft auch ein Projekt der moralischen Selbstdarstellung, das weit über das Ziel hinausschießt. Der Grund: Wir deuten Signalwörter im Social-Media-Profil einer Person als Abkürzung zu ihrem moralischen Profil. Der Glaube, man könne Gesinnung an Wörtern ablesen, ist oft ein Kurzschluss, der dazu verleitet, Menschen oder ganze Parteien zu verurteilen, statt präzise zu recherchieren.

Wissenschaftlich oft fragwürdig

Wer sich so auf Wörter kapriziert, erliegt derselben Sprachmystik wie Leute, die meinen, Sprache sei „mächtig“ oder würde unser Denken oder gar Weltbild „bestimmen“. Solche vollmundigen Thesen sind vor allem unter Geisteswissenschaftlern beliebt, aber wissenschaftlich oft fragwürdig – oder schlicht unplausibel wie manche Begründung für problematische Wörter: Das Wort Flüchtlingsstrom soll entmenschlichend sein, Besucherstrom aber nicht? Ehrenmord, ein „Unwort des Jahres“ 2005, ist laut Jury „inakzeptabel“ – das Wort Lustmord hingegen nicht? Auch hier soll die moralisch verwerfliche Tat kritisiert werden, und das Wort muss als Sündenbock herhalten.

Bizarr an der aktuellen Debatte ist, dass die Journalisten gerade das Wort Freiheit zur Floskel des Jahres erklärt haben. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ Der Freiheitsbegriff steht dort nicht zufällig an erster Stelle. Der Kampf um die Menschenrechte war zuallererst ein Freiheitskampf für das Individuum gegen die Unterdrückung durch autoritäre Herrscher.

Und ist es bis heute, wie nicht nur der Krieg in der Ukraine verdeutlicht, sondern auch die Weltlage. Laut Demokratieindex des Economist leben nur etwa 6 Prozent der Weltbevölkerung in vollständigen Demokratien, in denen die Freiheitsrechte der Bürger geschützt sind.

Bevor man über gesellschaftliche Freiheiten nachdenken kann, muss man sich vergegenwärtigen, was man mit Freiheit eigentlich meint. Schon Leibniz und später Isaiah Berlin haben darauf aufmerksam gemacht, dass man Freiheit negativ (frei von X) oder positiv (frei zu X) verstehen kann. Negative Freiheit haben wir bei Abwesenheit von Zwang, wenn wir zum Beispiel nicht in Ketten liegen, wie Hume sagt. Positiv verstanden ist Freiheit Autonomie, also Selbstbestimmung, die freie Entfaltung der Persönlichkeit.

Autonomie und Schaden

Dieses Muster überträgt sich auch auf die Debatte über politische Freiheit, die beides sein sollte, also die Freiheit von staatlicher Unterdrückung und die Freiheit, sich in einer Gesellschaft zu entfalten. Obwohl das progressive (also linksliberale) Projekt ein freiheitliches ist – gegen die Autorität der Religion und Tradition, den Zwang des Kollektivs und eine strikte Sexualmoral –, scheiden sich die Geister, sobald man fragt: Welche Freiheit genau? Liberale (nicht zu verwechseln mit der Partei) fassen Freiheit eher „negativ“ als Freiheit von Zwang: Sie wollen, dass sich der Staat möglichst wenig ins Privatleben und die Wirtschaft einmischt.

Linke (ebenfalls nicht zu verwechseln mit der Partei) sehen Freiheit eher „positiv“ als Autonomie und verbinden das mit Fürsorge: Sie wollen, dass der Staat die freie Entfaltung besonders der Schwachen und Benachteiligten schützt. Mehr noch: Wir alle stimmen darin überein, dass die Freiheit eingeschränkt werden darf, um einen „Schaden“ abzuwehren, wie schon John Stuart Mill ausgeführt hat, einer der Begründer des Liberalismus.

Aber worin genau besteht ein Schaden, und wer sollte am ehesten geschützt werden? Schäden sind selten genau zu berechnen, wie letzthin die schwierigen Abwägungen in der Coronapandemie gezeigt haben: Schränkt man die Freiheit des Handels ein und nimmt Schäden wie Arbeitslosigkeit, Pleiten und Verarmung in Kauf? Oder lässt man ihm seine Freiheit, riskiert aber mehr Kranke und Tote durch Infektionen?

Wir haben feine Sensoren für beide Spielarten der Freiheit. Unser Mitgefühl macht uns geneigt, unsere Interessen zum Wohle der Schwachen zurückzustellen. Gleichzeitig reagieren wir aber auch empfindlich auf Dominanzverhalten und autoritäres Gebaren. Unter Frauen ist die erste Neigung etwas stärker ausgeprägt, unter Männern die zweite, was im Extremfall zu Trotz führt: „Wenn mir jemand etwas verbieten will, dann mache ich es erst recht!“ Auch Sprachkritik kommt oft autoritär daher. Kein Wunder also, dass sie bei einigen starke Gegenreaktionen auslöst.

Freiheit muss nicht nur gegen Autoritäre durchgesetzt werden, sondern auch gegen den „Käfig der Normen“, also die engstirnige Moral der Gemeinschaft. Im Iran sagen die Frauen „Ich, ich, ich“, um sich gegen kollektive Zwänge zu wehren. Gäbe es eine iranische Floskelwolke, hätte sie getwittert: „Religion, Religion, Religion! Der Gemeinschaftsbegriff wird entwürdigt von Fanatikern, die im Namen der Gemeinschaft die Freiheit beschneiden – alles für den eigenen Vorteil.“

Kritisiert werden sollten die fragwürdigen moralischen Absichten der Menschen und nicht die Wörter, mit denen sie sie verhehlen. Wir müssen uns immer aufs Neue die Frage stellen: Wo wird im Namen der Freiheit und wo im Namen der Gemeinschaft zu viel verlangt? Um die Balance zu finden, sollten wir lieber offen und leidenschaftlich über Werte streiten statt über Worte. Gerade diese Auseinandersetzung macht unsere Freiheit in der Demokratie aus, positiv wie negativ.

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