Rechte, Linke und Widersprüche: Nazis für die „Freiheit“

Die Rechten sind radikal, aber auf depperte Weise. Die Linken sind gescheit, aber hasenfüßig und so vernünftig, dass man vor Langeweile einschläft.

Demonstration gegen Corona-Maßnahmen, auf einem Schild steht «Freiheit».

„Querdenker“ fordern oftmals Freiheit ein ohne selbst andere Meinungen zuzulassen Foto: Ralph Peters/imago

Dauernd ist jetzt von „Freiheit“ die Rede, und oft wird der Begriff auf haarsträubende Weise missbraucht. Da wird von Leuten „Freiheit“ eingefordert, die zugleich proklamieren, alle, die nicht ihrer Meinung wären, gehörten an die Wand gestellt. Die gleichen Leute haben kein Problem damit, Schutzsuchenden den Grenzübertritt zu verwehren und sie erfrieren oder ertrinken zu lassen. Die neue „Nazis für die Freiheit“-Bewegung ist skurril, und dabei könnte man es belassen.

Aber vielleicht tritt hier auf verquere, perverse Form ein echtes Problem zutage. Nicht nur für die gemäßigte, auch für die radikale Linke war und ist Freiheit immer das höchste Gut. Jedenfalls, wenn man nicht im Brackwasser von Stalinismus, Proto- oder Poststalinismus oder sonstiger Erziehungsdiktatur dümpelt.

Marx verkündete die frohe Botschaft, dass alle Verhältnisse umzuwerfen sind, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. Im „Manifest“ proklamierte er, dass „die freie Entwicklung eines Jeden die Bedingung für die freie Entwicklung Aller ist“.

Das „Gleichheitsideal“ ist die Schwester des „Freiheitsideals“. Alle sollen frei darin sein, ihr Leben nach ihrem Gutdünken zu führen, ihre Talente zu entwickeln, und weder durch Repression, Konvention und Konformismus, Zwang oder krasses Elend behindert zu sein. Deswegen konnte sich der Sozialismus so leicht mit dem In­di­vi­dua­lis­mus verbünden, deswegen hatten schon in frühesten Tagen die kommunistischen Re­vo­lu­tio­nä­re so viel Ausstrahlungskraft auf die eigensinnigen Milieus von Künstlern, Künstlerinnen, Dandys.

Niemand ist „frei“ wie Robinson

Die „Freiheit“ ist aber eine Schimäre in hochkomplexen Gesellschaften, in denen niemand „frei“ ist wie Robinson, weil alle miteinander verbunden sind.

Die Vorstellung, dass es zum Kern individueller Freiheit gehört, sich bei einer ansteckenden Krankheit nicht impfen zu lassen, kann man gern hochhalten, wenn man als Eremit im Wald haust – aber nicht, wenn man im Notfall dann doch ein Intensivbett in einem Krankenhaus belegt, das durch den Sozialstaat finanziert wird und in dem Ärztinnen und Pfleger Sonderschichten fahren müssen. Meine „Freiheit“, mit dem Auto zu fahren, ist auch abhängig davon, dass alle zusammen für mich die Straßen bezahlen.

Allerdings: Bleibt dann in hochkomplexen Gesellschaften eigentlich gar nichts mehr von der „Freiheit“ und dem „Eigensinn“ der Individuen, weil diese nur eine Einbildung ist, an der sich romantische Gemüter wärmen? Das ist die interessante und bedrückende Frage.

Geht etwas grob schief, das die gesamte Gesellschaft durchschüttelt, ist es mit der Freiheit nicht weit her, unser Leben nach unserem Gutdünken zu gestalten. Die steht plötzlich auf wankendem Boden, wenn der Nachbar hustet. Komplexe Gesellschaften sind durchreglementiert, was die Freiheit, das Leben nach eigenen Präferenzen zu gestalten, einschränkt.

Die Vernünftigkeit des Einerseits-Andererseits

Nun kann man diese Widersprüche mit Vernunft auflösen, in dieser Einerseits-Andererseits-Vernünftigkeit, die an jedem Problem herumkaut wie an einem Eislutscher, bis nichts mehr übrig bleibt. Das ist das Talent gescheiter Leute, aber leider auch ihr Fehler. Da ich gerade in sorgenvoller Stimmung bin, mache ich mir sogleich auch über diesen Fehler Sorgen.

Es braucht auch die Unvernünftig­keit, die Radikalität, das Beginnergefühl, das Berserkerhafte, die Zerstörungswut, denn nur so wurden in der Vergangenheit Konventionen und das Übliche, das Überlebte weggefegt.

Heute hat man manchmal das Gefühl, die Rechten sind radikal, aber auf depperte Weise, die Linken sind gescheit, aber hasenfüßig und so vernünftig, dass man vor Langeweile einschläft. Gut, stimmt schon, ein paar Linke sind auch radikal und bescheuert, und dann ist es mir auch wieder nicht recht.

Ich weiß nicht genau, aber das ist so ein flüchtiger Eindruck, das Gespür einer Atmosphäre, dieses wabernde deprimierende Etwas, was man den „Zeitgeist“ nennt. Radikal, aber auf vernünftige Weise, das wäre was. Oder wie Walter Benjamin einmal schrieb, „immer radikal, niemals konsequent …“

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Geboren 1966, lebt und arbeitet in Wien. Journalist, Sachbuchautor, Ausstellungskurator, Theatermacher, Universaldilettant. taz-Kolumnist am Wochenende ("Der rote Faden"), als loser Autor der taz schon irgendwie ein Urgestein. Schreibt seit 1992 immer wieder für das Blatt. Buchveröffentlichungen wie "Genial dagegen", "Marx für Eilige" usw. Jüngste Veröffentlichungen: "Liebe in Zeiten des Kapitalismus" (2018) und zuletzt "Herrschaft der Niedertracht" (2019). Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik 2009, Preis der John Maynard Keynes Gesellschaft für Wirtschaftspublizistik 2019.

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